Ein Hausarzt betrügt seine depressive Ehefrau jahrzehntelang mit einer verheirateten Patientin. Mit dieser kauft er eine Wohnung, zeugt ein Kind. Dieses Kind soll dem Ehemann als Kuckuckskind untergejubelt werden. Die Verstrickung von Lügen und Schein fliegt auf.
Das Urteil über diesen Mann ist schnell gefällt: Er ist böse. Genauso schnell ist der Impuls, sich abgrenzen: «Ich könnte so etwas Böses niemals tun.» Und was, wenn doch?
Wie können wir uns sicher sein? Was, wenn einen das Böse plötzlich einholt? Genau davor fürchtete sich Autor Florian Schroeder.
Dem Bösen auf der Spur
Den meisten ist Florian Schroeder als Fernseh- und Bühnensatiriker bekannt. In seinem Buch «Unter Wahnsinnigen» macht er sich nun auf, die Biografien der Bösen zu entdecken. Er spricht mit dem Ehebrecher, einem pädophilen Sexualstraftäter, einem Holocaustleugner. Jahrelang recherchiert er, besucht Gerichtsprozesse, geht an polarisierende Demonstrationen.
Sein Ziel: Herausfinden, woher das Böse kommt und warum wir es brauchen. Wie kann ein Mann jahrelang ein Doppelleben führen und dann lediglich bereuen, dass er aufgeflogen ist?
Florian Schroeders Vater war kriminell, sass wegen Betrugs jahrelang im Gefängnis. Den Anstoss für das Buch gab seine persönliche Geschichte zwar nicht, «aber für mich war klar, wenn ich mich mit dem Bösen beschäftige, dann kann ich meine eigene Geschichte nicht ausschliessen», so Schroeder. «Ich wollte zeigen, dass man auch aus windschiefen Verhältnissen kommen und trotzdem etwas aus sich machen kann.»
Mein Vater, der Bösewicht
Aufgewachsen ist Florian Schroeder an der Schweizer Grenze, im deutschen Städtchen Lörrach. Mit 15 Jahren fing er an, beim Radio zu arbeiten. Sein Traum war die Unterhaltungsbranche. Später studierte er Philosophie und Germanistik. «Das Lustigsein ist schön, aber eine Substanz dahinter schadet nicht», sagt Schroeder in der «Sternstunde Philosophie».
Seine Sinnsuche ist unweigerlich geprägt von der problematischen Vaterfigur. Schroeders Vater war Antiquar. Er hat wertvolle Bücher gestohlen und woanders teuer weiterverkauft. «Er hat sich früh entschieden, ein Hochstapler zu werden», sagt Schroeder. Auf Reisen gab er in Hotels einen anderen Namen an, um die Rechnung nicht zahlen zu müssen.
Wenn ich mich mit dem Bösen beschäftige, kann ich meine eigene Geschichte nicht ausschliessen.
Als kleiner Junge befahl ihm der Vater, sich bei Ticketkontrollen schlafend zu stellen. «Stets wollte er den Staat aushöhlen.» Der Vater war eine ambivalente Figur für Schroeder. Einer, der Spass hatte an der Machtausübung. Einer, der den Sohn immer wieder abwertete, wie er erzählt.
Als sich die Eltern scheiden liessen, war Florian Schroeder sechs Jahre alt. Obwohl der Vater sich nicht wirklich um ihm kümmerte, wollte er das Sorgerecht. «Wahrscheinlich eine Kriegserklärung an meine Mutter», so Schroeder in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk.
Nach der Scheidung brach der Kontakt zum kriminellen Vater ab. Schroeder erfuhr, dass sein Vater ins Gefängnis musste. Darüber gesprochen wurde in der Familie nicht. Anfang 30 erhielt er einen Anruf: Sein Vater sei tot gefunden worden, er möge bitte die Bestattungskosten zahlen. In einer Sozialwohnung im Schwarzwald, vereinsamt – so verstarb sein Vater.
Eintauchen in die Welt des Bösen
Schroeder erzählt, wie er diesen Teil seiner Biografie lange verdrängte. Die Wende brachte eine jahrelange Therapie. «Erst als ich diese Anteile von mir nicht mehr wegstiess, waren sie nicht mehr bedrohlich.» Die Vergehen seines Vaters wirken jedoch – verglichen mit den Porträtierten in Schroeders Buch – harmlos.
Wir müssen uns eingestehen, dass diese Taten zutiefst menschlich sind – auch wenn absolut verwerflich.
Da wäre zum Beispiel der Mann, der sich als Nachhilfelehrer ausgab, um an Kinder heranzukommen. Einem achtjährigen Buben hat er Nacktfotos gezeigt, ihn fotografiert und misshandelt. Er war Wiederholungstäter. Heute sitzt der Mann in der Sicherungsverwahrung.
Oder die schizophrene Frau, die Stimmen hörte. Die glaubte, den Teufel zu sehen und im Wahn versuchte, ihre Mutter zu erwürgen – überzeugt, das Böse sei damit aus der Welt.
Oder der Holocaustleugner. Der Scharfschütze der Bundeswehr. Und da ist Wladimir Putin.
Böse Menschen oder böse Taten?
Mit den verschiedenen Geschichten will Florian Schroeder zeigen: Eine Rangliste des Bösen gibt es nicht. Wo hört heimtückisch auf und wo fängt böse an?
Wer definiert, was «das Böse» ist? Der Scharfschütze ist überzeugt, in Afghanistan Gutes zu tun. Er versteht nicht, weshalb ihn Menschen für böse halten.
Schroeder sass ihnen gegenüber: den Pädophilen, den Rechtsradikalen, den Schizophrenen. Sein Fazit: Das Böse gibt es nicht. Weder Höcke, Hamas, noch Hitler? Nein. Der Satiriker will die Kategorie «Das Böse» überwunden sehen. Für ihn heisst das: Böse Taten gibt es, aber keine bösen Menschen.
Es geht ihm auch um Begrifflichkeiten. Das Wort «böse» gibt es im Strafrecht nicht. Strafrechtlich verfolgte Verbrechen, ja. Aber der Begriff «böse» ist moralisch aufgeladen, hat einen theologischen Ursprung. Er ist verknüpft mit unserer uralten Vorstellung von Sünde. Davon müssen wir wegkommen, so Schroeder.
Schattenseite der Freiheit
Wozu brauchen wir also «das Böse»? Wir nutzen es, um uns selbst als gut zu inszenieren. Dort die Bösen, wir die Guten. Aber das Böse dient als Spiegel unserer selbst. Die Kategorisierung gibt Aufschluss darüber, wovor wir uns fürchten oder was sich unserer Kontrolle entzieht, schreibt Schroeder.
Höchstwahrscheinlich haben die wenigsten von uns einen kriminellen Vater. Oder unsere Ehefrauen jahrelang belogen. Oder rassistische Verschwörungstheorien im Netz verbreitet.
Aber «wir müssen uns eingestehen, dass diese Taten zutiefst menschlich sind – auch wenn absolut verwerflich.» Wir haben also die Freiheit, uns für gute oder schlechte Taten zu entscheiden – es sei denn, man leidet unter einer psychischen Krankheit.
Der sachliche Beobachter
Eindeutige Antworten, woher das Böse kommt, hat Schroeder am Ende nicht. Er ist auch nicht gänzlich in die Gedankenwelt der Verbrecher oder Andersdenkenden durchgedrungen. Seine Leistung besteht eher in der nüchternen Erzählform.
Schroeder wahrt zwar einen gewissen Abstand, aber er scheut die Konfrontation nicht. Er hat seine Rolle im beobachtenden Kommentator gefunden. Wenn der Kopf der Neuen Rechten, Martin Sellner, Schroeder bei einem seiner Vorträge als «Vertreter der Lügenpresse» vorstellt, nimmt Schroeder das einfach zur Kenntnis.
Trotz des sachlichen Tons wählt er einen provokativen Titel und porträtiert bewusst bestimmte Straftäter – wie einen Pädophilen. Er ist sich im Klaren, dass «kaum eine andere Tätergruppe so viel Hass bei Menschen auslöst». Es geht Schroeder um Personen am Rande der Gesellschaft und um unseren Umgang mit ihnen.
Er verlangt der Leserschaft dennoch einiges ab, da er für seine philosophischen Überlegungen den Bogen der Beispiele sehr weit spannt: eben von Kleinkriminellen zu Holocaustleugnern. Er will Menschen beleuchten, die die Eindeutigkeit nicht zulassen. Einige wird es trotzdem irritieren, pädophile Täter als Menschen mit Widersprüchen zu verstehen. Denn die Perspektive der Opfer – sie findet hier keinen Platz.
«Das Böse»? Die Moral!
Zwischen den Zeilen wird Florian Schroeders Hauptanliegen des Buches klar. Er will ein Gegenbeispiel liefern. Er geht in die Gefängnisse, redet mit den Straftätern, nimmt an Demonstrationen der «Letzten Generation» teil. Er will die Menschen nicht dämonisieren, sondern verstehen.
In seinen Augen ist das Grundproblem unserer Zeit das Schwarz-Weiss-Denken. Wir teilen ein in Freund oder Feind. In Gut und Böse. «Ich halte die Moral für das ganz grosse Problem unserer Gegenwart», sagt Schroeder.
Deshalb redet er auch mit denjenigen, mit denen es vermeintlich nicht zu reden gilt. Zum Beispiel: Martin Sellner. Ihn begleitet er fünf Jahre lang. Sellner war einer der Redner beim rechtsextremen Geheimtreffen in Potsdam vergangenen Herbst. Schroeder will Sellners rechtsextremes Gedankengut verstehen. Er seziert es, bettet es in die Geschichte ein. Trotz Abstand bezieht er Stellung.
Rechtsextreme wie Sellner seien «gefährliche Gegner», mit denen es sich zu streiten gilt. Menschen wie Martin Sellner jedoch als böse zu brandmarken, würde sie «nur glorifizieren» und ihnen einen Opferstatus geben.
Gegenteilig denken, ohne zu verharmlosen
Schroeders Buch kann als Plädoyer fürs Verstehen gelesen werden. Hitzig debattieren? Gerne. Nie einig werden? Geschenkt. Solange wir diskutieren und nicht tabuisieren.
«Verstehen heisst nicht, etwas gutheissen, sondern es nachzuvollziehen», so Schroeder. Man könne etwa einen AfD-Wähler verurteilen und sich trotzdem fragen, worüber er sich Sorgen macht.
Schroeder sagt: «Ich bin nicht auf Harmonie aus.» Gegner zu haben, sei gut. «Es ist hochproduktiv, sich an etwas abzuarbeiten.» Aber durch das Buch über das Böse habe er gelernt, dass «Ambivalenz eine höhere Qualität ist, als ich jemals dachte».