Zum Inhalt springen

«New Day Will Rise» Israels ESC-Song dient der Traumabewältigung einer ganzen Nation

Die israelische Sängerin Yuval Raphael überlebte das Hamas-Massaker am Nova-Festival vom 7. Oktober 2023. Ihr ESC-Song «New Day Will Rise» soll der traumatisierten Nation Trost und Lebensmut spenden.

Ein Aufatmen ging durch den israelischen Rundfunk KAN, als der Eurovision Song Contest Ende Februar den Wettbewerbssong «New Day Will Rise» für Basel genehmigte. Vergangenes Jahr noch musste das eingereichte Lied «October Rain» in «Hurricane» umgetextet werden: Zu heikel war dem ESC der Bezug zum Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023.

Jetzt tritt mit Yuval Raphael eine Überlebende des Massakers auf die ESC-Weltbühne und singt: «Ein neuer Tag wird anbrechen, das Leben wird weitergehen.»

Ein Wunder

2023 besuchte Yuval Raphael das alternative Nova-Musikfestival in der Negevwüste, das nur wenige Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt stattfand. Als die Hamas die Veranstaltung angriff, flüchtete die damals 22-Jährige in einen halboffenen Bunker: Sieben Stunden lang versteckte sich die Musikerin hinter und unter den Leichen ermordeter Jugendlicher. Sie stellte sich tot – während das Morden um sie herum weiterging.

Yuvals Überleben ist ein Wunder. Sie ist gleichsam auferstanden von den Toten. Ihre Resilienz soll jetzt auch die traumatisierte israelische Nation wieder aufrichten.

Mit Melancholie zu Lebensmut

«New Day Will Rise» wirkt zunächst weniger kraftvoll und eingängig als der letztjährige ESC-Song «Hurricane». Das liegt nicht an der Interpretin: Stimmkraft bewies Yuval Raphael im israelischen Vorentscheid. Es liegt an der Traurigkeit des Lieds.

Im Video zum Song macht eine Gruppe junger Erwachsener einen Ausflug ins Grüne. Sie rasten auf einer Wiese am Waldrand, singen, halten sich an den Händen, pflücken Blumen. Der Bezug zum Nova-Festival ist klar. Die idyllische Natur im Video irritiert durch Harmlosigkeit.

Yuval trägt ein weisses Kleid. Auf der Wiese blühen rote Anemonen. Sie erinnern an das vergossene Blut. Aber: Die Anemonen stehen auch für das Wiedererwachen des Lebens jedes Frühjahr, wenn die Negevwüste purpurrot aufblüht.

Das Leben und die Liebe sind stärker als Hass und Tod, will das sagen. Der Song zitiert dazu das biblische «Lied der Lieder», das Hohelied der Liebe: «Auch mächtige Wasser werden die Liebe nicht auslöschen können; selbst Fluten werden sie nicht fortschwemmen.» (Hld 8,7)

Die Armee als Wiege der israelischen Pop- und Rockmusik

Box aufklappen Box zuklappen

In der israelischen Verteidigungsarmee IDF («Zahal») dienen junge Frauen und Männer mehrere Jahre. Um sie bei Laune zu halten, rekrutierte die Armee bereits bei Staatsgründung 1948 nur die besten Nachwuchsmusiker für die beliebten Armeebands. Nach britisch-amerikanischen Vorbild spielten sie Marsch- und Bigband-Musik.

Ihre Glanzzeit aber kam mit der Rock- und Popmusik Ende der 1960er- und 70er-Jahre. Es gab Bühnenshows und Musicals. In den jungen Armeebands hatten alle späteren Pop- und Rockstars Israels «gedient» und gelernt. Das porträtiert der Kinofilm «Ha Lahakah» (doppeldeutig für «Die Truppe» oder «Die Band») von 1978.

Verbreitet wurde die israelische Popmusik zuerst vom Radiosender der Armee «Galëi Zahal» (kurz «Galatz»). Er ist der beliebteste Sender Israels und sendet seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 als erstes Radio in Israel rund um die Uhr.

Aktuell läuft im israelischen Radio wieder der alte Song «Chosrim habaita» («Sie kommen nachhause»). Denn: Jede Familie in Israel hofft auf die Heimkehr ihrer Kinder aus der Armee und auf die Heimkehr der Geiseln aus Gaza.

Damit trifft Songschreiberin Keren Peles die kollektive Sehnsucht: Endlich aufwachen aus dem Alptraum, endlich aufstehen aus den Bunkern und einem «neuen Tag» ohne Terror entgegen blinzeln.

Wer, wenn nicht eine Überlebende wie Yuval, könnte dies glaubhafter vortragen.

Symbolort Basel

Israelische Popmusik verbindet Generationen und steht mehrheitlich für einen liberalen, multikulturellen und säkularen Lebensstil. Das haben 50 Jahre ESC-Songs gezeigt.

Israel steht beim ESC für Vielfalt, Freiheit und Frieden

Box aufklappen Box zuklappen

1973 nimmt Israel als erstes aussereuropäisches Land am ESC teil. 1979 findet der Eurovision Song Contest in Jerusalem statt.

1998 repräsentierte mit Dana International erstmals eine Transperson ein Land am Contest. «Diva» hiess der Song, und die israelische Musikerin Dana wurde zur Ikone der LGBTQI+ Community.

2009 setzte ein jüdisch-christliches Duo mit «There Must Be Another Way» ein Zeichen für Frieden. Superstar und Friedensaktivistin Noa sang zusammen mit der christlich-arabischen Schauspielerin Mira Awad auf Hebräisch, Arabisch und Englisch.

2018 verteidigte Künstlerin Netta die weibliche Selbstbestimmung, als sie «I'm not your toy!» sang. Ein Statement gegen Machismus und gegen den Einfluss Nationalreligiöser und Ultraorthodoxer auf die Kultur Israels.

So wie Israels knallig-feministischer ESC-Siegersong «toy» von 2018 wird Yuvals melancholisches Lied aber wohl kaum mitreissen. Doch das ist gar nicht das Ziel: 2025 steht Trauerarbeit im Zentrum. Denn Yuvals Überleben symbolisiert das Überleben Israels – und erinnert gleichzeitig daran, dass der Glaube an diesen Staat erschüttert ist.

Dabei könnte der diesjährige ESC-Austragungsort für Israel nicht symbolträchtiger sein: «In Basel habe ich den Judenstaat gegründet», schrieb Journalist Theodor Herzl, der hier den ersten Zionistenkongress organisierte. Yuvals Song – performt in Basler Jakobshalle – soll also vor allem nach innen wirken, um die traumatisierte Nation zu trösten und zu einen.

SRF 2, 100 Sekunden Wissen, 7.3.2025, 6:54 Uhr

Meistgelesene Artikel