Eine Angestellte einer Privatklinik im Kanton St. Gallen hat im letzten Jahr einen Teuerungsausgleich erhalten: Zwei Prozent mehr Lohn. In diesem Jahr ist der Lohn unverändert geblieben. Sie möchte nun wissen: «Kann es sein, dass man uns den Teuerungsausgleich auch wieder wegnimmt oder den Lohn reduziert, wenn die Teuerung sinkt? Und: Ist ein Arbeitgeber von Gesetzes wegen dazu verpflichtet, diesen Ausgleich zu zahlen?»
Die Rechtslage sei klar, sagt Arbeitsrechts-Experte Roger Rudolph von der Universität Zürich im SRF-Konsumentenmagazin «Espresso»: «Das Obligationenrecht sieht keinen Teuerungsausgleich vor. Man kann sich also nicht auf das Gesetz stützen, wenn man das geltend machen will.» Dasselbe gelte im Übrigen auch für Mindestlöhne.
Mit GAV im Vorteil
Anders sei es, wenn ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) im Spiel sei, in dem ein Teuerungsausgleich oder ein Mindestlohn vorgesehen ist oder wenn sich die Sozialpartner in den periodisch stattfindenden Lohnverhandlungs-Runden darauf geeinigt haben. Rund zwei Millionen Angestellte sind in der Schweiz einem GAV unterstellt. Es gibt über 600 Gesamtarbeitsverträge in verschiedenen Branchen und Grossbetrieben – vom Bau über die Gastronomie bis hin zur Post und SRG, zu der auch SRF gehört. Es handelt sich um verbindliche Leitplanken für alle individuellen Arbeitsverträge in jener Branche oder Firma.
Angestellte mit einem GAV sind im Vorteil, was den Teuerungsausgleich betrifft. «Wir haben einige Gesamtarbeitsverträge mit einem teilweisen oder vollen Teuerungsausgleich», bilanziert Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Im Baubereich gebe es eine Art von Automatismus, eine Erhöhung zwischen einem und zwei Prozent. Dies habe in der Phase des Preisanstiegs dazu geführt, dass sehr viele Angestellte in jener Branche einen Teuerungsausgleich und zusätzlich eine Lohnerhöhung erhalten hätten.
Ein gutes Argument
Und ohne Unterstützung eines GAV? Rechtsexperte Roger Rudolph empfiehlt, die Teuerung auch als Argument in die individuellen Lohnverhandlungen einzuwerfen, wenn man sich nicht auf einen GAV stützen kann. «Ich denke, viele Arbeitgebende haben ein Gehör dafür. Und wenn es die betriebliche und finanzielle Situation zulässt, werden sie wahrscheinlich auch darauf einsteigen.»
Gewerkschafter Daniel Lampart sieht es weniger positiv: «Früher war der Teuerungsausgleich noch eine Selbstverständlichkeit.» Heute müssten zu viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer darauf verzichten und mit demselben Lohn die höheren Alltagskosten bewältigen. «Das muss sich ändern.»
Reduktion: «Das wäre völlig unüblich»
Und was gilt nun, wenn die Teuerung negativ ist? Kann ein Arbeitgeber dies zum Anlass nehmen, den Lohn zu kürzen? «Eine Lohnerhöhung unter dem Titel ‹Teuerungsausgleich› ist grundsätzlich unbefristet.», sagt Arbeitsrechts-Experte Roger Rudolph. Der Lohn könne deshalb nicht einfach gesenkt werden, wenn die Teuerung sinkt oder es einem Unternehmen schlecht geht. «Anders wäre es höchstens dann, wenn die Arbeitgeberin den Teuerungsausgleich mit der Bedingung verknüpft hätte, dass sie den Lohn auch wieder entsprechend reduzieren kann.» Aber dies wäre völlig unüblich, das habe er noch nie gesehen.