Tim ist 14 und praktisch ständig auf Social Media. Wenn seine Eltern die Bildschirmzeit nicht beschränken, kommt er schnell auf Nutzungszeiten von acht Stunden und mehr, pro Tag.
«Das ist schon viel, ja», gibt Tim zu. «Es ist die Pubertät, und ich glaube, bei vielen anderen ist es auch so. Ich kenne einige mit 15 oder 16 Stunden.» Es sei wohl die Langeweile, die ihn dazu bringe. Er möchte anonym bleiben – auch sein Name ist deshalb ein anderer.
Die langen Handyzeiten von Tim machen seiner Mutter zu schaffen: «Er wird so reingezogen und vergisst alles darum herum. Er ist teilweise nicht mehr sich selbst.» Ob Tim effektiv handysüchtig ist, müsste eine Fachperson abklären.
Für Martin Meyer, Psychiater für Verhaltenssüchte an den universitären, psychiatrischen Kliniken in Basel UPK, gibt es drei Warnzeichen:
- Kontrollverlust: «Das bedeutet, ich kann nicht mehr aufhören, obwohl ich es eigentlich möchte», sagt Martin Meyer dazu.
- Schaden: «Das wäre zum Beispiel: Ich bin die ganze Zeit im Streit mit Gleichaltrigen oder mit meiner Familie – und ich mache trotzdem weiter.» Auch Schlafprobleme und Schwierigkeiten in der Schule gehörten dazu.
- Priorität: «Es bekommt Priorität über etwas anderes, das ich vorher gemacht habe und das für mich wichtig war: etwa ein Hobby.»
Stehen diese drei Punkte im Zusammenhang mit einer Social-Media-Nutzung, spricht Martin Meyer von einem suchtartigen Verhalten.
300'000 Jugendliche mit problematischem Social-Media-Konsum
In der Schweiz haben rund 30'000 Kinder und Jugendliche eine suchtartige Bildschirmnutzung, schätzt die Vereinigung der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Chefärzte und Chefärztinnen. Zählt man auch die Teenager mit einer problematischen Social-Media-Nutzung dazu, kommt man auf 300'000 Betroffene.
Die Abhängigkeit kommt oft in Kombination mit diesen Auswirkungen: Weniger gemeinsame verbrachte Zeit mit Freunden, Schlafmangel, kürzere Aufmerksamkeit.
Die kürzere Aufmerksamkeitsspanne ist auch Adrian Rüegger, Schulleiter der Kreisschule Rohrdorferberg (AG) aufgefallen. Im Vergleich zu früheren Jahren beobachtet der Lehrer bei den 12- bis 16-Jährigen: «Die Schülerinnen und Schüler können weniger lang und fokussiert an einem längeren Text arbeiten. Rasch muss ein neuer Input kommen.»
Schwieriger Entzug von Tiktok und Co.
Die Teenager realisieren zum Teil selber, dass ihnen die vielen Stunden auf Social Media nicht gut tun. Konzentrationsschwierigkeiten, schmerzende Augen oder zu wenig Schlaf sind häufige «Nebenwirkungen». Einige Jugendliche haben die zeitfressenden Apps auch schon mehrmals gelöscht. Der Entzug war aber oft nur von kurzer Dauer.
Dass viele Teenager und auch Erwachsene ihren Social-Media-Konsum nicht in den Griff kriegen, liegt an Algorithmen und Hormonen.
Gefangen in der Endlosschlaufe
Die Algorithmen von Tiktok und Instagram zeigen endlos Videos von gleicher Art oder mit ähnlichen Inhalten. Das kann beispielsweise für depressive Jugendliche problematisch werden. Schauen sie traurige Videos, spielen ihnen die Social-Media-Apps immer weitere solche Videos zu.
Angela Müller, Geschäftsleiterin von Algorithmwatch Schweiz, kennt die Konsequenzen solcher Endlosschlaufen: «Immer wenn ich das Gefühl habe, jetzt habe ich es gesehen, folgt das nächste. Das sind Faktoren, die durchaus auch ein Abhängigkeitspotential haben.»
Psychoaktive Hormone im Hirn
Weitere Gründe, warum Social Media süchtig machen kann, liefert die Hirnforschung. Die Neurophysikerin Frederike Petzschner vom Rat für Digitale Ökologie bringt psychoaktive Hormone im Hirn ins Spiel: «Jedes Kurzvideo führt zu einer Aktivierung des Belohnungssystems und zur Ausschüttung von Dopamin. Wie interessant die Inhalte sind, ist sekundär. Allein die Aussicht auf eine mögliche Belohnung aktiviert das Dopaminsystem – analog dem Reiz des Glücksspiels.»
Bei der sozialen Mediennutzung ist die Idee: Man bekommt jedes Mal eine Belohnung, wenn man die App öffnet, auch über einen längeren Zeitraum. Und mit der Zeit lernen wir dann, Dinge zu wiederholen, die ursprünglich mal zu einer Belohnung geführt haben. Und dadurch wird es zu einem Automatismus oder zu einer Gewohnheit.
Das Hirn gewöhnt sich an die Dopaminausschüttung. Das führt dazu, dass für den gleichen Effekt die Dosis erhöht werden muss. Kinder und Jugendliche sind besonders betroffen, weil ihr Hirn noch in der Entwicklung steckt.
So wie bei Tim. Es gibt Zeiten, in denen er realisiert, dass ihm die vielen Stunden am Handy schaden: «Ja, die gemeinsame Zeit mit der Familie kommt zu kurz. Wie manchmal auch der Schlaf und die Schule.»