Vor drei Jahren sorgten die Magglingen-Protokolle für ein Erdbeben im Schweizer Turnsport. Kunstturnerinnen und Gymnastinnen berichteten von jahrelangen Misshandlungen. Bundesrätin Viola Amherd versprach daraufhin stärkere Kontrollen und eine Null-Toleranz bei Ethikvergehen. Jetzt zeigen Recherchen von SRF Investigativ: Das System funktioniert offenbar nur mangelhaft.
In einem aktuellen Turnsport-Fall beging die Disziplinarkammer des Schweizer Sports einen groben Verfahrensfehler. Die Sperre aufgehoben hat der Präsident der Disziplinarkammer, Carl-Gustav Mez. Dieser kennt den Geschäftsleiter des betroffenen Trainingszentrums NKL seit Jahrzehnten privat und hätte bei der Aufhebung der Suspendierung deshalb in den Ausstand treten müssen.
Die beiden Männer gehören derselben Pfadi an, sitzen seit vielen Jahren gemeinsam in den wichtigsten Gremien des Vereins und sehen sich regelmässig. Das zeigen unter anderem Fotos aus dem Pfadi-Archiv und Protokolle von Sitzungen. Sie sind Teil des Stiftungsrats des Pfadfinderheims, sowie Mitglied im Abteilungsrat – dem obersten Leitungsorgan dieser Pfadi.
«Ausstand wäre zwingend gewesen»
Für Benjamin Schindler, Professor für Prozessrecht an der Universität St. Gallen, hätte der Präsident der Disziplinarkammer beim Entscheid über die Aufhebung der Suspendierung zwingend in den Ausstand treten müssen: «Wenn sich zwei Personen über so viele Jahr in zwei Gremien so häufig sehen und zusammenarbeiten, deutet das auf ein persönliches Verhältnis hin.»
Es entsteht der Verdacht, dass nicht unparteiisch und unbefangen entschieden worden ist.
Aus Sicht des Professors besonders problematisch: Die beiden Pfadi-Kollegen standen in der Sache direkt miteinander in Kontakt. Der Geschäftsleiter des Trainingszentrums hatte die Einsprache gegen die Sperre seiner Chef-Trainerin eigenhändig unterzeichnet, wie Dokumente zeigen. Adressiert war die Einsprache direkt an seinen Pfadi-Kollegen, den Präsidenten der Disziplinarkammer.
Ruf der Disziplinarkammer des Schweizer Sports gefährdet
Benjamin Schindler verweist bei seiner Einschätzung auf Artikel 47 der Zivilprozessordnung. Diese schreibt vor, dass eine Gerichtsperson allein bei Verdacht auf Befangenheit in den Ausstand treten muss. Es sei deshalb irrelevant, ob die Nähe der beiden Männer den Entscheid tatsächlich beeinflusst hat, so Schindler. In diesem Fall ist das tatsächlich nicht klar.
Dennoch, so Schindler, sei bereits der Anschein einer möglichen Befangenheit ein Ausstandsgrund und könne dem Ruf der Disziplinarkammer schaden. «Die Autorität dieser Institution hängt alleine davon ab, was sie für eine Reputation hat und welches Vertrauen Sportlerinnen und Sportler ihr entgegenbringen.» Deshalb sei es wichtig, dass sich die Mitglieder der Kammer sehr genau an die Ausstandsvorschriften hielten, sagt Schindler.
Fall nun erneut bei Disziplinarkammer – Mez nicht mehr involviert
Der Präsident der Disziplinarkammer, Carl-Gustav Mez, schreibt auf Anfrage: Er habe sich vor der Aufhebung der Suspendierung mit dem Sekretär der Kammer beraten. Es gelte ein Vier-Augen-Prinzip. Jeder einzelne Fall werde unvoreingenommen und unabhängig beurteilt. Zudem sei die Aufhebung der provisorischen Sperre verhältnismässig gewesen, so Mez. Der Geschäftsleiter des Trainingszentrums NKL wollte sich gegenüber SRF nicht äussern.
Der Fall Trampolin steht inzwischen kurz vor dem Abschluss. Die Sport-Ethik-Stelle Swiss Sport Integrity hat ihre Untersuchung abgeschlossen. Sie erachtet es weiterhin als sehr wahrscheinlich, dass es im Liestaler Trainingszentrum zu psychischen und physischen Misshandlungen gekommen ist. Das Dossier liegt nun bei der Disziplinarkammer zur abschliessenden Beurteilung. Carl-Gustav Mez wird dabei keine Rolle mehr spielen. Mit der Recherche konfrontiert, gab der Präsident der Disziplinarkammer bekannt, für die finale Beurteilung in den Ausstand zu treten.