Es läuft die 72. Minute. Murat Yakins Blick wandert ins Leere. Er hat genug gesehen. Über 83'000 Leute sind im riesigen Lusail-Stadion anwesend und damit so viele wie noch nie an einem WM-Spiel mit Schweizer Beteiligung. Und sie sehen gemeinsam mit Yakin, wie sein Team vorgeführt wird. Die Partie ist zu diesem Zeitpunkt längst entschieden, 1:5 liegt die Schweiz gegen furiose Portugiesen zurück. Am Schluss sollte auf der Anzeigetafel gar ein 1:6 aufleuchten.
Die Frage nach dem System
Es ist das brutale Ende eines Tages, der bereits denkbar schlecht begann. Mit Silvan Widmer wird ein weiterer Nati-Spieler krank. Am Vormittag muss er Forfait geben, steht dem Team nicht zur Verfügung. Ausgerechnet er, ist man versucht zu sagen, gehörte der Rechtsverteidiger doch zu den Besten im Schweizer WM-Turnier. «Sein Ausfall sollte schwerer wiegen, als wir alle gedacht haben», analysiert SRF-Experte Beni Huggel.
Yakin bringt Edimilson Fernandes und stellt das System um. Die Fortsetzung der Geschichte ist bekannt. «Man hat Schiffbruch erlitten», formuliert es Huggel. Die Frage drängt sich auf: War nicht vorauszusehen, dass die Nati personell in unruhige Gewässer schippern könnte?
Bei der Kaderbekanntgabe überraschte Yakin mit der Nomination von nur zwei gelernten Aussenverteidigern. Was, wenn Ricardo Rodriguez oder Silvan Widmer ausfallen sollten? Letzteres trat nun prompt ein. «Ich bin weiterhin überzeugt von der Kadernomination und vom System», verteidigt sich Yakin nach dem Spiel gegenüber den Journalisten. Die Enttäuschung ist ihm anzumerken, doch der Basler wirkt aufgeräumt.
Alles nur Pech – oder doch nicht?
Dass mit Nico Elvedi, Fabian Schär und Widmer gleich drei von vier Stammverteidigern nacheinander krank werden, mag eine happige Hypothek sein, keine Frage. Doch ist der blutleere Auftritt von Granit Xhaka und Co. gegen Portugal ausschliesslich auf die personellen Rochaden zurückzuführen? Greift diese Analyse nicht etwas zu kurz?
«Kratzen, beissen, laufen. Eklig und mühsam sein, das alles hat heute gefehlt», übt Huggel Kritik. Er nimmt die Spieler aber gleichzeitig in Schutz. «Wenn jemand nicht in die Zweikämpfe findet, muss das nicht zwingend eine Frage des Willens sein, sondern kann auch mit dem System zusammenhängen. Man ist verunsichert.» Ist also doch das System schuld?
Man dreht sich bei der Ursachenforschung im Kreis. Am Ende bleibt die ernüchternde Feststellung, dass es der Nati an einer WM erneut nicht gelungen ist, das im Verlauf des Turniers entfachte Feuer in die K.o.-Phase zu transportieren. Die Annahme, dass man aus dem Schweden-Debakel vor 4 Jahren die richtigen Schlüsse gezogen hat, erwies sich an diesem denkwürdigen Abend im Norden Dohas vorerst als falsch.