Nach einem mitunter komplizierten Halbjahr bei Bayern München hätte Yann Sommer sich kaum einen besseren Neustart erträumen können. Mit starken Leistungen und 19 Ligaspielen ohne Gegentor war der Nati-Goalie eine der wichtigsten Säulen beim 20. Meistertitel von Inter Mailand. Im Rahmen des Nati-Zusammenzugs vor der EM blickt er im Interview mit SRF auf eine erfolgreiche Saison zurück, erklärt den Leistungsdruck grosser Vorgänger und die einzigartige Atmosphäre im San Siro.
SRF Sport: Yann Sommer, ich nenne Ihnen ein paar Zahlen und Sie sagen, was Ihnen durch den Kopf geht: 29. April 2024, 350'000 Inter-Fans, 20. Meistertitel.
Yann Sommer: Ich kriege sofort wieder Gänsehaut. Es war mega-emotional, euphorisch. Eine coole Meisterfeier mit extrem vielen Leuten. Ich habe es sehr genossen.
In Italien ist Fussball fast eine Religion. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Die Fans lieben den Klub, das zeigen sie in jedem Heimspiel, in jedem Auswärtsspiel. Diese riesige Freude spürt man in jedem Moment. Für einen Fussballer ist es etwas vom Schönsten, was es gibt. Die Meisterparade – man konnte es kaum glauben. Wir brauchten 7,5 Stunden für 2,5 km. Es hatte so viele Menschen, auch kleine Mädchen und Buben, es war wunderschön.
Verspürt man dadurch auch eine Verantwortung gegenüber den Fans?
Definitiv. Wir probieren Ihnen diese Freude mit guten Resultaten auf dem Platz zurückzugeben. Der Druck ist natürlich da, die Leute wünschten sich den Meistertitel, den 2. Stern auf dem Trikot. Sie investieren als Fans extrem viel.
Sie waren mitverantwortlich, dass das geklappt hat. 25 Mal spielten sie zu null, davon 19 Mal in der Liga. Ist das eine Währung für einen Goalie?
Auf jeden Fall. Es ist aber auch eine Währung für die Mannschaft. Wir haben schon bei Gladbach unter Lucien Favre extrem gut verteidigt. Bei Inter ist das auch so, wir haben eine gute Struktur auf dem Platz. Daraus resultiert, dass wir wenige Gegentore kassieren. Für mich als Goalie ist das ein absoluter Traum.
Wie ist das für einen Torwart, in einem Team zu sein, das das Verteidigen sogar ein wenig zelebriert?
Das ist das Schöne daran. Wenn man den Ball hat und angreifen kann, dann wird das auch zelebriert. Es ist aber auch cool, wenn man es als Team zelebrieren und feiern kann, das eigene Tor zu verteidigen. Wir hatten viele Situationen, in denen Schüsse geblockt werden oder eine Parade kommt und sich die Spieler abklatschen. Das war in diesem Jahr unser Erfolgsrezept.
Bei Gladbach folgten Sie auf Marc-André ter Stegen, bei Inter auf André Onana – beides hoch angesehene Keeper. Hat Ihnen dieses Mal die Erfahrung geholfen?
Natürlich hilft das. Schon bei Gladbach war es für mich eine Challenge, die ich annehmen wollte. Mein Ziel war immer, keine Kopie eines anderen Goalies zu sein. Ich, Yann Sommer, wollte ein guter Goalie für den neuen Klub sein. Ich bin immer gut damit gefahren, mich nicht zu vergleichen, sondern mein Spiel, meine Ideen und Kreativität auf den Platz zu bringen.
Nach einigen Monaten flog Ihnen auch in den italienischen Medien eine hohe Wertschätzung entgegen. Machte das Ihr Leben leichter?
Bei Inter Mailand habe ich den Druck nicht so gespürt. Vielleicht, weil ich am Anfang noch nicht alles verstanden habe, was geschrieben wurde (lacht). Ich verspürte eher grosse Freude von den Fans, dass ich zu Inter gekommen bin. Ich fühlte mich vom ersten Tag an willkommen. Das machte es leichter.
Sie kamen aus einem erfolgreichen, aber auch komplizierten halben Jahr bei Bayern München. Ist die Wertschätzung bei Fans in südlichen Ländern eine andere?
Schwierig zu sagen. Als ich zu Gladbach kam, kannte mich noch keiner in Deutschland. Die Leute waren unsicher: Ein unbekannter Schweizer Goalie für Ter Stegen – kommt das gut? Dieses Mal bin ich von den Bayern gekommen, habe Erfahrungen in Europa gesammelt. Das war ein grosser Unterschied, die Fans wussten schon, was für einen Goalie sie bekommen. Kann sein, dass sie hier auf andere Sachen Wert legen. Der Fussballstil ist ein anderer. Für mich war das erste Jahr auf jeden Fall wahnsinnig schön.
Gibt es Dinge, bei denen Sie gemerkt haben: Das ist Italien, da muss ich mich adaptieren?
«Ritiro». Das bedeutet: Man schläft vor dem Spiel auf dem Trainingsgelände. Alles ist ein Stück weit emotionaler – auch teamintern, wie der Staff mit uns arbeitet. Ansonst gibt es in der Arbeit schon viele Parallelen zur Bundesliga.
Wie haben Sie das erste Jahr in Italien als Familie erlebt?
Es ist immer wieder eine neue Challenge. Wir hatten in München alles neugestaltet und nach knapp 6 Monaten waren wir wieder weg, mussten in Mailand alles neu aufbauen. Uns ist das gut gelungen. Auch dank meiner Frau, die viel im Hintergrund macht und mich sehr unterstützt.
Sie sind schon lange im Geschäft, jetzt werden die Titel immer wie mehr. Ist das eine Genugtuung?
Es ist wunderschön für mich. Ich habe viel in meine Karriere investiert, das ist das Resultat daraus. Die Möglichkeit zu haben, bei solchen Klubs zu spielen. Zuletzt kam mit den Wechseln noch einmal Fahrt in meine Karriere.
Denken Sie manchmal, dass Sie das schon etwas früher hätten forcieren sollen?
Nein. Das Ding ist: Man kann es nicht forcieren. Der Goalie-Markt ist kein einfacher. Ich habe mich in Gladbach sehr wohl gefühlt. Es gab auch damals Angebote, die ich mir überlegt habe, die aber nicht passten. Dann kam die Anfrage von Bayern, da wusste ich, dass ich das unbedingt machen will, dass ich eine neue Challenge brauche.
Haben Sie bei Inter immer noch dieses Gefühl, dass Sie in einer anderen Fussballwelt sind?
Gerade die ersten Monate bei Inter waren sehr speziell. Ich hatte das Glück in meiner Karriere in tollen Stadien vor tollen Fans zu spielen. Das San Siro ist noch einmal mehr. Alle Leute sagen dasselbe: Es ist laut, es ist heiss, «caldo», emotional, euphorisch. Ich hatte oft Gänsehaut.
Den italienischen Grove haben Sie auch schon verinnerlicht?
Ich fluche noch nicht so viel (lacht). Aber ich bin tagtäglich voll in der Sprache drin. Ich probiere, gut italienisch zu lernen, damit ich richtig mitreden kann. Ich liebe das Lebensgefühl, das Italiener einem vermitteln. Sie sind extrem freundlich, sie geniessen, reden gerne und laut, gestikulieren. Es ist so eine Freude, mit ihnen Zeit zu verbringen. Und auf dem Platz bin ich ohnehin auch immer laut.
Das Gespräch führte Jeff Baltermia.