SRF Sport: Herr Gumbrecht, mit welchen Gefühlen blicken Sie dem Spiel Bayern München gegen Dortmund entgegen?
Seit 1957 bin ich Dortmund-Fan. Zwar bin ich in Würzburg aufgewachsen, eigentlich im Einzugsgebiet von Bayern. Aber in meiner Kindheit war Bayern München eine mittelmässige Oberliga-Mannschaft. Das vergisst man heute gerne. Der zentrale Verein in München war 1860. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die Bayern als der «Judenklub» galten. Sie wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts wohl von Mitgliedern der jüdischen Bourgeoisie gegründet. Vermutlich haben sie sich später «Bayern» genannt, um zu zeigen, wie assimiliert sie waren.
In den letzten 50 Jahren haben sich die Bayern zu einem der erfolgreichsten Klubs weltweit etabliert ...
Zwischen 1967 und 1971 habe ich in München studiert, da waren die Bayern erstmals in die Bundesliga aufgestiegen. Sie waren ja kein Gründungsmitglied. Das war die grosse Zeit mit Sepp Maier, Franz Beckenbauer und Gerd Müller. In Nürnberg gewannen sie 1967 den Pokal der Pokalsieger gegen die Glasgow Rangers. Ich war zwar im Stadion, bin aber Dortmund-Fan geblieben. Daher hoffe ich natürlich, dass der BVB gewinnt. Durch den Transfer von Thomas Tuchel zu Bayern ist das aber schwieriger geworden.
Bei seinen letzten drei Stationen ist er nicht entlassen worden, weil sich kein Erfolg eingestellt hätte. Er ist einfach nicht zu Kniefällen vor den Klubverantwortlichen bereit.
War es also ein guter Move der Bayern, Julian Nagelsmann durch Tuchel zu ersetzen?
Es ist einfach so, dass der Anfangseffekt bei Tuchel bisher immer enorm war. Sei das bei Dortmund, bei PSG und dann vor allem bei Chelsea. In der Premier League hat seine Mannschaft in den ersten 11 Spielen nur 2 Gegentore einstecken müssen. Ich befürchte, dass es Tuchel gelingen wird, den Dortmunder Offensivrausch strategisch lahmzulegen und dass es zu einem knappen Sieg der Bayern kommen wird.
Sind die Bayern im Panik-Modus?
Die aktuelle Bayern-Führung trifft nicht viele gute Entscheidungen, aber auf das Spiel vom Samstag bezogen ist das ein kluger Schachzug. Und auch im Hinblick auf das Duell gegen Manchester City. Tuchel hat Pep Guardiola im Endspiel 2021 ja quasi ausgecoacht.
Ich habe ihn während seiner Zeit in Paris einmal gefragt, was denn sein Traumjob wäre. Da hat er völlig spontan gesagt: brasilianischer Nationaltrainer.
Hat Sie der Rauswurf von Nagelsmann nicht auch überrascht?
Ich war nicht so überrascht wie die Medien, denn die Konsistenz war unter Nagelsmann nicht die, welche der Bayern-Tradition entspricht. Das strukturelle Problem des Klubs ist, dass das Kader zwar potenziell sehr gut, aber sehr heterogen ist.
Können Sie das erläutern?
Es gehört zu den Talenten von Tuchel, verschiedene Spieler aus heterogenen Kadern schnell zu motivieren. Nagelsmann hat es zum Beispiel nicht geschafft, den talentierten Leroy Sané oder auch Sadio Mané zu integrieren. Joshua Kimmich und Leon Goretzka passen zwar sehr gut zusammen. Das ist die Achse, aber die ist in Deutschland überbewertet. Weder Kimmich noch Goretzka sind wirkliche Weltklassespieler.
Wird Tuchel aus den Bayern eine Einheit machen?
Er hat zwei grosse Stärken: Einerseits ist er strategisch sehr variabel und unvorhersehbar. Er ist bekannt dafür, dass er für jedes Spiel eine Strategie entwirft. Aber es gelingt ihm auch, den Spielern das Gefühl zu geben, dass sie eine Rolle in der Mannschaft haben. Kylian Mbappé und Neymar haben sich damals herzzerreissend von ihm verabschiedet.
Tuchel hat bei Chelsea bewiesen, dass er den Turnaround bewirken kann. Wie beurteilen Sie seine Dortmunder Zeit?
Er hat aus dem Kader herausgeholt, was möglich war. In seiner Zeit in Dortmund (2015-2017, die Red.) hat er kein einziges Heimspiel verloren. Das ist dort niemandem vor oder nach ihm gelungen. Und er hat immerhin den DFB-Pokal geholt.
Wenige Tage später wurde er entlassen. Warum?
Das ist bei Tuchel extrem. Bei seinen letzten drei Stationen ist er ja nicht entlassen worden, weil sich kein Erfolg eingestellt hätte. Er ist einfach nicht zu Kniefällen vor den Klubverantwortlichen bereit.
Dann dürfte das aber schwierig werden für ihn bei den Bayern, oder?
Meine Prognose ist, dass es für die Bayern eine gute Saison werden könnte. Aber dass er sich über die gesamte nächste Spielzeit mit Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic verstehen kann, stelle ich mir nicht vor. Denn das beginnt schon bei den Transfers. Er hat seine eigenen Vorstellungen. Er möchte Dortmunds Jude Bellingham, aber der wird kaum in der Bundesliga bleiben. Da werden die Spannungen beginnen. Natürlich könnte er dazulernen, er ist besonders intelligent. Aber eben kein Typ, der Konzessionen macht.
Wohin würde Tuchel denn am besten passen?
Ich habe ihn während seiner Zeit in Paris einmal gefragt, was denn sein Traumjob wäre. Da hat er völlig spontan gesagt: brasilianischer Nationaltrainer. Weil er mit brasilianischen Spielern immer gute Erfahrungen gemacht hat. Wenn das bei den Bayern scheitert, und das könnte ja schon am Samstag beginnen, wäre dies eine Option. Denn der brasilianische Fussballverband sucht einen neuen Nationaltrainer in Europa. Dort hätte er auch nicht den ständigen Kontakt mit den Klubverantwortlichen.
Das Gespräch führte Dominik Steinmann.