Es ist der 21. November 2023 und die Schweizer Fussball-Nati ist am Tiefpunkt angelangt. Sie verliert gegen Rumänien das letzte EM-Qualispiel mit 0:1, womit sie sich in der Tabelle hinter den Rumänen mit Platz 2 zufriedengeben muss.
Die Spieler hadern. So sagt Xherdan Shaqiri: «Wir spielen zu viel hin und her, statt nach vorne.» Manuel Akanji nervt sich über die fehlende Effizienz: «Es ist auch eine Frage der Qualität. Die Gegner machen die Tore, wir nicht.» Captain Granit Xhaka ist dermassen angesäuert, dass er kein Interview gibt. Und Trainer Murat Yakin befindet lapidar: «Wir sind enttäuscht, aber wir haben uns qualifiziert.»
Der Trainerstuhl Yakins wackelt gewaltig, in den Medien wird sein Rauswurf zumindest diskutiert, oft gar gefordert. Zur Überraschung vieler bestätigt der Verband eine Woche später, dass er an Yakin bis mindestens nach der EURO 2024 in Deutschland festhält.
Im Nachhinein stellt sich diese Entscheidung von Nati-Direktor Pierluigi Tami als goldrichtig heraus. Es ist einer von mehreren Bausteinen für den grossen Erfolg der SFV-Auswahl in Deutschland, sieben Monate nach dem vielkritisierten Auftritt in Bukarest.
1. Weitsichtige Planung
Der Verband hält einerseits an Yakin fest, andererseits tüftelt er im Hintergrund an einer Verpflichtung, die sich als Coup herausstellt: Im Februar holt Tami Giorgio Contini ins Boot. Der 50-Jährige, eigentlich selbst Cheftrainer, wird zur rechten Hand Yakins und bildet mit seinem langjährigen Weggefährten ein kongeniales Duo.
«Wir verstehen uns blind. Er versteht den Fussball genau wie ich. Darum können wir auch schnell Entscheidungen treffen», sagt Yakin nach dem Viertelfinal-Einzug in Berlin.
2. Das Winner-Gen
Captain Xhaka ist wohl der Inbegriff eines Gewinnertyps. Der 31-Jährige absolviert mit Leverkusen eine Fabelsaison. Als Mittelfeld-Dirigent und Schlüsselspieler holt er den Titel in der Bundesliga und im deutschen Pokal. Ist er früher als Heisssporn bekannt, der immer wieder beim Schiedsrichter jammert, zeigt er nun, was für ein grosser Leader er ist. Keine andere Präsenz ist im Schweizer Spiel derzeit dermassen spürbar wie seine.
Hinter ihm ordnet Akanji, notabene Stammspieler beim englischen Serienmeister Manchester City, die Verteidigung. Kurzum: Die Schweiz hat hochdekorierte Superstars in ihrer Mannschaft – das ist jetzt augenscheinlicher denn je.
3. Keine Nebengeräusche
Die Schweizer spielen auch an früheren Endrunden bisweilen erfolgreich. Allerdings verfallen sie ab und zu in Übermut. Wie zum Beispiel, als die Nati an der WM 2018 in Russland Serbien mit 2:1 bezwingt und danach die «Doppeladler-Affäre» ins Leben ruft.
Oder an der EM 2021, als sich unter anderem Xhaka und Akanji vor dem zweiten Gruppenspiel gegen Italien die Haare blond färben lassen. Im Spiel gibt's eine 0:3-Klatsche – natürlich wird der Friseurbesuch landauf, landab diskutiert. Diesmal ist es um die Nati ruhig. Selbst ein miserabler Trainingsplatz kann den Schweizern nichts anhaben. Das zeigt die grosse Reife und Professionalität von Spielern und Staff.
4. Geeinter als je zuvor
Hinzu kommt, dass beim Turnier in Deutschland alle Schweizer an einem Strang ziehen. Angefangen bei den Fans, die in Scharen an die Matches der Nati pilgern. Noch nie schien die Schweizer Anhängerschaft dermassen organisiert. Dies imponiert auch den Akteuren auf dem Platz. «Der Support der Fans hier ist unglaublich», sagt stellvertretend Remo Freuler nach der Gruppenphase.
Aber auch intern ist die Equipe von Yakin eine verschworene Einheit. Jeder stellt sich in den Dienst des Teams. Bemerkenswert ist dabei besonders die Rolle von Xherdan Shaqiri, der bisher nur einmal zum Einsatz kommt, nach dem Triumph gegen Italien aber wie seine Mitspieler über beide Ohren strahlte.
5. Mutige Taktik
Die Entscheidung, den stets brandgefährlichen Shaqiri zu «opfern», ist ein weiterer mutiger Schachzug des Trainerstaffs. Überhaupt ist Yakin bei der Startformation immer für eine Überraschung gut. Zum Turnierauftakt gegen Ungarn mit Kwadwo Duah im Sturm verblüfft er alle.
Im zweiten Gruppenspiel gegen Schottland gibt er Shaqiri das Vertrauen, der dieses mit einem Traumtor zurückzahlt. Gegen Deutschland ist Breel Embolo ein steter Gefahrenherd. Im Achtelfinal beweist er mit der Aufstellung Ruben Vargas' ein feines Händchen – der Angreifer setzt Italien mit dem 2:0 schachmatt.
Noch nie haben bei der Nati alle Zahnräder so präzise ineinandergegriffen wie jetzt. Und so erleben wir eine der besten Schweizer Equipe aller Zeiten. Eine Equipe, die eine Einheit bildet und zudem hungrig auf Erfolg ist. Gut möglich, dass am kommenden Samstag auch England «aufgefressen» wird.