Es ist nicht lange her, da wusste die heute 24-jährige Oriana Kraft noch kaum etwas über Gender- und Frauenmedizin. Auch in ihrem Medizinstudium an der ETH Zürich wurde das Thema damals nur am Rande behandelt. Nur in den Gynäkologie-Vorlesungen ist von Versorgungs- und Forschungslücken bei frauenspezifischen Beschwerden die Rede.
«Es war mir nicht bewusst, dass es bezüglich Frauengesundheit so viele grosse Probleme gibt», erinnert sich die Westschweizerin an ihr Studium, das sie vor zwei Jahren mit dem Bachelor abschloss.
Ich habe damals zum ersten Mal das Wort ‹Femtech› gehört. Das war auch mir als Frau völlig neu.
Überraschend war auch, dass in Vorlesungen zwar viel über die Zukunft der Medizin gesprochen wurde, aber kaum über Innovationen zugunsten frauenspezifischer Themen. Sie beginnt selbst zu recherchieren: «Ich habe damals zum ersten Mal das Wort ‹Femtech› gehört. Das war auch mir als Frau völlig neu.» Ein Thematik, die sie packt. Und sie fasst den Entschluss, in diese Richtung etwas bewegen zu wollen.
Als sie ein Thema für ihre Bachelorarbeit finden muss, macht sie ihrem Professor einen ungewöhnlichen und innovativen Vorschlag: Statt einer klassischen Bachelorarbeit will sie eine Konferenz für Gender- und Frauenmedizin ins Leben rufen. «Mein Professor hat sofort zugesagt, obschon es ein ganz anderes Format als üblich war.»
Ihr Ziel: Forschende, Medizinerinnen und Medizinier, Start-ups und Investoren zum Thema Frauenmedizin zusammenzubringen. Oriana Kraft muss kaum Überzeugungsarbeit leisten, um die verschiedenen Akteure für ihre Idee zu gewinnen: «Damals sprach man noch nicht so viel über Frauengesundheit. Alle, die ich kontaktierte, haben sofort zugesagt. Sie waren sehr froh, dass das nun jemand thematisieren wollte.»
Nach dem ersten Event sagte ich: nie wieder! Jetzt habe ich schon den dritten organisiert.
2021 findet die erste Konferenz unter dem Namen «FemTechnology Summit» mit über 700 Online-Teilnehmenden statt. Das Interesse ist gross, fast zu gross für die Studentin: «Ich habe nach dem ersten Event gesagt: nie wieder! Es war zu viel Arbeit.»
Doch sie gibt nicht auf. Im Juni dieses Jahres führt sie schliesslich die dritte Ausgabe des FemTechnology Summits durch. Inzwischen ist ein grosser Player auf die junge Konferenz aufmerksam geworden – der Pharma-Riese Roche. Er stellt Oriana Kraft in seinen Hochhäusern am Basler Hauptsitz Räumlichkeiten für den Anlass zur Verfügung.
150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der ganzen Welt treffen sich während zweier Tage für Vorträge, zu Networking-Anlässen und informellen Stehlunches. In den oberen Etagen eines der prunkvollen Hochhäuser herrscht lebendiges Treiben. Es wird viel geredet, gelacht und vor Flipcharts diskutiert.
Workshops tragen Titel wie «Frauenzentrierte Krebsbehandlungen», «Künstliche Intelligenz und der Gender Data Gap» oder «Finanzierung von Innovationen von Frauenmedizin».
Obwohl sich vieles um frauenspezifische Themen dreht, will Oriana Kraft mit der Konferenz auch sogenannt geschlechtersensitive Themen vorantreiben, die Männern ebenso zugutekommen sollen. Auch aus einem pragmatischen Grund will Kraft vermehrt Männer für die Gendermedizin sensibilisieren: «Es gibt an unserer Konferenz einen Gender-Gap. Es sind mehr Frauen als Männer anwesend. Aber wir brauchen die Männer. Denn es gibt immer noch mehr Männer in Regierungs- und Chefpositionen.»
Dass hier Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft und dem Gesundheitswesen zusammenkommen, macht Oriana Krafts Konferenz für Roche besonders interessant, sagt Stephanie Sassman, Leiterin Portfolio Frauengesundheit. «Kein Akteur kann die Herausforderung bezüglich Frauengesundheit allein lösen. Deshalb ist es so wichtig, dass all diese verschiedenen Akteure zusammenkommen.»
Firmen wie Roche konzentrieren sich in erster Linie auf Partnerschaften und finanzielle Beteiligungen, wenn es um den Femtech-Markt geht. Neue Produkte werden hauptsächlich von Start-ups entwickelt.
In der Schweiz gibt es mehrere Dutzend Jungunternehmen, welche frauenspezifische Produkte entwickeln – zum Beispiel in den Bereichen mentale Gesundheit, Krebsvorsorge und hormonelle Gesundheit.
Jeder Player auf dem Markt, der Frauenbedürfnisse ausblendet, wird zu den Verlierern gehören.
Grosse Pharmafirmen wie Roche wollen das Potenzial des Femtech-Markts aber nicht verpassen: «Egal, ob es eine Firma ist, die Medikamente oder Technologien herstellt, oder eine Gesundheitseinrichtung, wie zum Beispiel ein Spital: Jeder Player auf dem Markt, der Frauenbedürfnisse ausblendet, wird zu den Verlierern gehören», ist Sassman überzeugt.
Gemäss «Bilanz» schätzen Analysten das globale Marktvolumen auf 30 Milliarden Dollar. Bis 2029 könnte dies auf 70 Milliarden ansteigen. Kein Wunder, dass auch Roche mitmischen will: «In Bezug auf das Marktpotenzial von Frauenmedizin kratzen wir erst an der Oberfläche. Es ist enorm», so Sassman.
Dennoch sind grosse Pharmafirmen laut Oriana Kraft noch zurückhaltend mit ihren Investitionen. Das könnte sich bald ändern – nicht zuletzt dank Initiativen wie der von Oriana Kraft. «Die Tatsache, dass wir hier bei Roche sind und über Frauengesundheit sprechen, zeigt, dass das Interesse da ist. Sie wissen nur noch nicht, wo sie investieren sollen.» Und selbstbewusst fügt die junge Frau an: «Das versuchen wir ihnen heute zu zeigen.»