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Problematische Chemie Warum Flammschutzmittel alles andere als unbedenklich sind

Immer wieder kommen Flammschutzmittel auf den Markt, die sich Jahre später als problematisch erweisen. Industrie und Regierungen liefern sich ein Katz-und-Maus-Spiel.

Im südchinesischen Städtchen Guiyu wird der Grossteil von Chinas Elektroschrott recycelt. Arbeiterinnen und Arbeiter nehmen hier mit einfachsten Hilfsmitteln Computer auseinander, schmelzen Leiterplatten auf und verbrennen die Plastikverkleidung von Kabeln. So können sie die wertvollen Metalle gewinnen, die in der Elektronik verbaut sind.

Beim Recycling werden aber nicht nur Metalle, sondern auch Flammschutzmittel frei. Computer oder Smartphones enthalten jede Menge davon. Sie sollen die Geräte bei einem elektrischen Kurzschluss davor schützen, sich zu entzünden.

Ungesunde Flammschutzmittel

Verschiedene Flammschutzmittel waren in der Vergangenheit verboten worden, weil sie sich als gesundheitsschädlich erwiesen. Mittlerweile sind neue Flammschutzmittel auf dem Markt. In der Recycling-Stadt Guiyu hat nun ein Forschungsteam nach zwei dieser neuen Flammschutzmittel gesucht.

Die aktuelle Studie belegt, dass zumindest zwei dieser polymeren bromierten Flammschutzmittel für Mensch und Umwelt ein Problem sein können.
Autor: Jacob de Boer Emeritierter Professor für Umweltchemie und Toxikologie

Es handelt sich dabei um sogenannte polymere bromierte Flammschutzmittel: lange, kettenartige Moleküle, bespickt mit zahlreichen Brom-Atomen. Diese Polymere galten lange als unbedenklich. Wegen ihrer Grösse, so die Annahme, würden sie nicht aus den Materialien herauswandern, die mit Flammschutz behandelt worden waren. Doch nun gibt es Zweifel an dieser Unbedenklichkeit.

Weniger robust als gedacht

Das Forschungsteam hat Staub- und Bodenproben aus dem Innern der weitläufigen Recycling-Anlage und aus Arbeiterunterkünften in Guiyu untersucht. Ihren Befund publizieren sie jetzt im Fachmagazin «Nature Sustainability». «Unsere Resultate beunruhigen mich sehr», sagt Miriam Diamond, eine der beteiligten Forscherinnen.

Ein Mann in kurzen Hosen und Hemd sitzt am Boden und schneidet Kabel durch.
Legende: Ohne Schutzkleidung: Ein Arbeiter in der südchinesischen Stadt Guiyu beim Recycling von Elektroschrott. KEYSTONE/EPA/MICHAEL REYNOLDS

Das Team fand Rückstände der beiden ursprünglichen Flammschutzmittel in ihren Proben – überraschenderweise aber auch zahlreiche Zerfallsprodukte. Und diese sind teils toxisch: In Standardtests mit Fischen zeigt sich, dass sie die embryonale Entwicklung stören.

Ungewolltes Nebenprodukt des Recyclings

Die Flammschutzmittel werden beim Recycling der elektronischen Geräte freigesetzt. UV-Strahlung, biologischer Abbau und Erosion zersetzen die langen Molekülketten anschliessend in kleinere, giftigere Substanzen.

Echte Alternativen

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Weltweit am meisten verkauft wird ein Flammschutzmittel, das auf Aluminium basiert. Aluminiumtrihydroxid gilt bislang als relativ umweltfreundlich, weil es keine problematischen Halogenatome wie Brom enthält.

Ausserdem wichtig sind phosphorhaltige Flammschutzmittel. Sabyasachi Gaan erforscht sie an der Empa in Dübendorf. «Unsere phosphorhaltigen Flammschutzmittel sind gesundheitlich weniger bedenklich und ebenso vielseitig anwendbar wie bromierte Flammschutzmittel – aber sie sind aktuell teurer in der Herstellung.»

«Das sind sehr wertvolle Daten», sagt Jacob de Boer, emeritierter Professor für Umweltchemie und Toxikologie, der sich seit Jahrzehnten mit langlebigen Substanzen in der Umwelt beschäftigt. «Die aktuelle Studie belegt, dass zumindest zwei dieser polymeren bromierten Flammschutzmittel für Mensch und Umwelt ein Problem sein können.»

Jüngstes Kapitel in einer langen Geschichte

Damit könnte sich wiederholen, was bereits mit früheren bromierten Flammschutzmitteln geschehen war: Ein Produkt kommt auf den Markt, wird in grossen Mengen hergestellt und verwendet – und muss Jahre später verboten werden, weil die Stoffe sich kaum mehr abbauen und teils auch gesundheitliche Probleme verursachen.

Intensives Lobbying

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Die wichtigsten Hersteller bromierter Flammschutzmittel haben sich in der Lobbying-Organisation «Bromine Science and environmental Forum» (BSEF) zusammengeschlossen. Diese betreibe beispielsweise in der EU intensives Lobbying, erzählt Jacob de Boer, emeritierter Professor für Umweltchemie und Toxikologie. Er konnte bereits 1998 nachweisen, dass sich bromierte Flammschutzmittel im Körperfett von Pottwalen angereichert hatten – ein klares Indiz dafür, wie weit sich diese Chemikalien in der Umwelt verbreiten.

«Vertreter der Industrie haben mich danach zum Essen eingeladen und versuchten mir einzureden, dass ich einen Fehler gemacht hatte bei meiner Untersuchung.» Doch es folgten weitere Publikationen, beispielsweise zu bromierten Flammschutzmitteln in der Muttermilch von Schwedinnen. «Daraufhin meinte die Industrie, es gäbe leider keine Alternativen. Erst als die Regierungen ein Verbot dieser Chemikalien diskutierten, machte sich die Industrie daran, neue Produkte zu entwickeln», sagt de Boer.

Leider müssten Flammschutzmittel heute nicht ausreichend geprüft werden, bevor sie auf den Markt kommen, so de Boer. Gerade weil diese Chemikalien in sehr grossen Mengen hergestellt werden, fordern er und andere Forschende eine umfassende Umweltprüfung vor ihrer Zulassung.

In der EU liegt deshalb nun der Vorschlag auf dem Tisch, sämtliche bromierte Flammschutzmittel zu verbieten – Ausgang ungewiss. Denn die Firmen, welche die bromierten Flammschutzmittel herstellen, wehren sich entschieden und mit viel Lobbying gegen ein solches Verbot.

Wissenschaftsmagazin, 8.3.2025, 12:40 Uhr

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