Standen Sie auch schon mal gut gelaunt auf einem Felsvorsprung, die Schlucht direkt vor ihrer Nase, und dachten: «Was, wenn ich jetzt einfach einen Schritt nach vorne machen würde?» Sassen Sie vielleicht im Auto und haben überlegt, was passieren würde, wenn Sie das Steuerrad jetzt – zack – nach links reissen würden?
Haben Sie sich nach dieser einen Millisekunde vielleicht tagelang gefragt, was mit Ihnen nicht stimmt? Dann kommen hier die Good News: Erstens sind Sie nicht alleine mit diesen Gedanken und zweitens gibt es wissenschaftliche Erklärungen dafür.
Keine Suizidgedanken, sondern Überlebenswillen
Zwar trägt das Phänomen, von dem wir sprechen, keine knackige deutsche Bezeichnung, unsere Nachbarn aus Frankreich haben mit «L'appel du vide» aber einen passenden Begriff ins Leben gerufen. Auch in Internetforen wie Reddit kursiert die englische Bezeichnung «Call of the Void», also «der Ruf der Leere».
Aber was sagt die Wissenschaft dazu?
Die Gefühle mit Suizidgedanken in Verbindung zu bringen, ist naheliegend – was die erste aussagekräftige Studie, die 2012 im «Journal of Affective Disorders» veröffentlicht wurde, allerdings widerlegt.
In ihrer Untersuchung mit 431 Studierenden fanden die Forschenden heraus, dass mehr als die Hälfte der Befragten noch nie Suizidgedanken hatten – und trotzdem mindestens einmal das «High Place Phenomenom», wie es die Psychologinnen nennen, erlebt hatten.
Tatsächlich machte die Studie auch deutlich, dass es einen grossen Unterschied gibt, zwischen der Vorstellung, von einer Brücke zu springen, und dem Wunsch, dies zu tun.
Vor der Durchführung der Studie stellten die Forschenden die Hypothese auf, dass der Ruf der Leere ein «falsch interpretiertes Sicherheitssignal» sein könnte. Das, was wir erleben, sei nicht der Drang zu springen, sondern die pure Angst vor dem Sturz, so die Wissenschaftlerinnen.
Fehlinterpretation des Gehirns
Wenn wir uns der Tatsache bewusst werden, dass ein Sturz aus dieser Höhe uns töten kann, fürchten wir uns. Weil wir uns aber auf sicherem Grund befinden, interpretiert unser Hirn die Kombi aus Höheninformation und Angst allerdings falsch – und macht daraus kurzzeitig einen Drang zum Springen.
Interessanterweise zeigt die Studie auch, dass Personen, die ihre Ängstlichkeit im Alltag selber hoch einschätzten, häufiger vom Abgrund «gecallt» wurden, als Personen mit einem niedrigeren Angstniveau. Die leitende Forscherin der Studie, Jennifer Hames, kam daher zu dem Schluss, dass der Ruf der Leere ein Versuch unseres Unterbewusstseins sein könnte, die Wertschätzung für unsere Lebenszeit zu pushen.
Ängstliche Menschen nehmen Signale stärker wahr
Auch in einer neueren Studie, die 2020 in der Fachzeitschrift «BMC Psychiatry» veröffentlicht wurde, gibt es diese Hinweise: «Immer wieder stellten sich bei uns beunruhigte Menschen vor, die sich fragten, ob sie suizidgefährdet sind», erklärt Tobias Teismann, Studienleiter und Psychologe an der Ruhr-Universität Bochum. Für die Betroffenen passten die Gefühle nicht zusammen: «Einerseits hingen sie an ihrem Leben, andererseits verspürten sie oft den Impuls, irgendwo herunter zu springen.»
Teismann befragte 276 Erwachsene in einem Online-Fragebogen und 94 Patientinnen und Patienten, die unter einer «klinisch relevanten Flugangst» litten. Die Studie ergab, dass diejenigen, die Selbstmordgedanken hatten, auch eher den Ruf der Leere verspürten als diejenigen ohne Selbstmordgedanken.
Menschen, die eher ängstlich auf Körpersignale reagieren, berichteten häufiger vom Call of the Void.
Trotzdem glaubt auch Teismann nicht, dass hier ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. «Menschen, die eher ängstlich auf Körpersignale reagieren, berichteten häufiger vom Call of the Void», erklärt er. Daraus schliesst er: Menschen, die Zittern, leichten Schwindel oder Muskelzuckungen verspüren, sind sensibler solchen Signalen gegenüber und nehmen es stärker wahr. Der Ruf der Leere sagt also mehr über unseren Wunsch zu Überleben aus, als über den Drang zu springen.
Und wo haben Sie den «Call of the Void» schon mal erlebt? Schreiben Sie’s uns in die Kommentare!