Unterwegs im neunten Wiener Gemeindebezirk, weit ab des touristischen Trubels. Hier erhebt sich ein eindrucksvolles Bauwerk: ein kreisrunder, fünfgeschossiger Turm mit meterdicken Mauern.
«Ursprünglich war es die K. u. K.-Irrenanstalt zu Wien, und dann hiess es relativ bald der Irrenturm.» Eduard Winter ist Leiter des grössten pathologischen Museums der Alpenrepublik, das seit 1971 im Narrenturm untergebracht ist.
Mehr Männer als Frauen
Der Ort war zur Behandlung psychisch kranker Menschen gedacht, die aus allen gesellschaftlichen Schichten hierher kamen und mit unterschiedlichsten geistig-seelischen Leiden.
«Etwa 53 Prozent aller Patienten waren männlich. Es dürfte einige Stressoren in der damaligen Zeit gegeben haben, die Männer überproportional belastet haben», resümiert der Wiener Humanmediziner Daniel Vitecek.
Der wissenschaftliche Experte hat herausgefunden, dass auch die Geschlechterverhältnisse sich in den medizinischen Diagnosen widerspiegelten: «Biologisch war das vor allem die Geschlechtskrankheit Syphilis, die bei Männern überwiegend häufig zu neuropsychiatrischen Symptomen und auch oft dann später zum Tod geführt hat.»
Alkoholismus, Syphilis und Depression
Auch bei Frauen habe es geschlechtsspezifische Diagnosen gegeben, sagt Vitecek. «Das sind zum Beispiel die Purperalmanie gewesen, also die psychischen Erkrankungen, die rund um die Geburt auftraten.» Das ist mit den heutigen postpartalen Depressionen oder postpartalen Psychosen vergleichbar. Und auch die Melancholie, also die Vorläuferdiagnose der heutigen Depression, war überwiegend weiblich geprägt.
Viersäftelehre und Menschenbild
Im Narrenturm versuchte man, die Patienten zu isolieren und gleichzeitig zu heilen – mit Methoden, die heute Kopfschütteln verursachen: Psychosen und Neurosen wurden mit Aderlass, Schröpfen, Brech- oder Kaltwasserkuren behandelt. Die Viersäftelehre war das herrschende Medizinmodell in Europa. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds oder Psychopharmaka waren in weiter Ferne.
Das Menschenbild, das hinter dem Narrenturm stand, war einerseits ein medizinisch rationales. Die Ärzte der damaligen Zeit glaubten, psychische Krankheiten erkennen und heilen zu können.
Andererseits stand der Narrenturm für die Ordnungsidee von Joseph II. Der wollte seinen Staat modernisieren, so Vitecek. Sein Ziel: gesunde Bürger, die arbeitsam waren und beim Militär dienen sollten. Die unheilbar psychisch Kranken wurden aus der Gesellschaft entfernt.
Symbol des Überwundenen
Heute gilt der Narrenturm als Symbol für das Überwundene, bilanziert Vitecek. Er stehe für die schlechte alte Zeit, in die niemand zurück will. Er sei allerdings ein zweischneidiges Symbol, weil auch die moderne Psychiatrie denselben Herausforderungen gegenübersteht wie die damalige Psychiatrie. «Das liegt daran, dass der wissenschaftliche Fortschritt die psychischen Erkrankungen nicht in derselben Weise überwunden hat, wie zum Beispiel die Tuberkulose heilbar ist.»
Insofern symbolisiert der Narrenturm das Fortwirken psychischer Erkrankungen, so Vitecek. «Aus der geschichtlichen Perspektive kann man sagen, dass der Narrenturm für eine gewisse Geschichtsvergessenheit in der Psychiatrie steht, in der immer alles Schlechte in eine ferne Vergangenheit projiziert wird.»
Für Vitecek heisst das: Die heutige moderne Psychiatrie werde wahrscheinlich in 50 Jahren als hoffnungslos veraltet und unmenschlich gelten. Der Narrenturm sei ein Mahnmal für die Psychiatrie, dass man aus guten Absichten möglicherweise Falsches macht.