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Im schwachen Licht einer Kerze späht Archäologe Howard Carter durch eine Öffnung, die er in die Wand geschlagen hat. Langsam gewöhnen sich seine Augen an das Schummerlicht.
Aus der Finsternis taucht allmählich «ein seltsames und wundervolles Durcheinander aufgetürmter Gegenstände» auf, wie Carter in seinem Tagebuch notiert.
Es ist der Nachmittag des 26. Novembers 1922. Der Brite Howard Carter und sein Team haben im ägyptischen Tal der Könige das intakte Grab des Pharaos Tutanchamun entdeckt.
Es muss ein erhabener Moment gewesen sein, und ein überwältigender Anblick: kunstvoll bemalte Schatullen, Statuen mit Gold-Sandalen, Alabaster-Vasen – alles über 3000 Jahre im Untergrund verborgen.
Keine Schatzsuche
Verschollene Schätze vergangener Kulturen wiederfinden ist das Ziel jedes Archäologen. Könnte man meinen. Doch Susanne Bickel, Carters Berufskollegin der Gegenwart, stellt klar: Archäologie ist keine Schatzsuche. «Es ist kein Buddeln zum Finden», sagt die Professorin für Ägyptologie der Universität Basel. «Es geht viel mehr ums Verstehen als ums Entdecken.»
Die Wissenschaftler interessieren sich nicht für die Schätze an sich, sondern für das Wissen über alte Kulturen, das in den Funden steckt: Was erzählen sie über den Alltag von damals, über Sitten und Bräuche? Der materielle Wert der Ware spielt dabei keine Rolle.
Das Wertvollste ist nicht das Interessanteste
Man würde Archäologie zwar oft mit Schätzen und Gold in Verbindung bringen, meint Bickel. Und solche Schätze kämen auch immer wieder zum Vorschein, sei es in Kaiseraugst oder in Ägypten: «Aber das ist wissenschaftlich meistens nicht das Interessanteste.»
Und doch sind es die spektakulären Funde wie Tutanchamuns reicher Grabschatz, die Schlagzeilen machen. Aus kostbaren Materialien kunstvoll gearbeitete Dinge faszinieren – und wecken das Interesse an der Welt der alten Ägypter.
Das alte Ägypten interessierte schon die Römer
Das begann schon in der Antike. Die alten Römer waren von der altägyptischen Kultur fasziniert. Wohl, weil sie diese bereits nicht mehr richtig verstanden hätten, vermutet Susanne Bickel. Man sei ja immer fasziniert von etwas, das man nicht ganz verstehe.
Das Interesse hält bis heute an. Weshalb? Da würden auch die Mumien eine Rolle spielen, meint die Basler Ägyptologin: «Einem Menschen, der vor 3000 Jahren gestorben ist, sozusagen in die Augen schauen zu können, ist schon etwas Spezielles.»
Wie sieht das Jenseits aus?
Die alten Ägypter haben sich intensiv mit der grössten Frage der Menschheit befasst: Was kommt nach dem Tod? Sie investierten viele Gedanken, viel Zeit und Finanzkraft in die Vorbereitung auf das Jenseits.
Der Tod war für die Ägypter nur ein Übergang in eine neue Form von Leben. Und diese klaren Jenseitsvorstellungen faszinieren, so Bickel: «Man erkennt: Da hatte eine Kultur viele Antworten und vielleicht sogar Sicherheiten, die wir heute nicht mehr haben. Es ist eine sehr vielseitige und spannende Auseinandersetzung mit etwas, das man letztlich nicht wissen kann.»
Ausgrabungen – eine kurze, intensive Zeit
Mit diesem Jenseitsglauben setzt sich Susanne Bickel in ihrer Forschung auseinander. Seit über zehn Jahren untersucht sie Grabstätten im Tal der Könige. Hier, in der Nähe Luxors, haben die alten Ägypter während fast 500 Jahren ihre Pharaonen und andere Angehörige der Elite bestattet. 64 Felsengräber hat man in der Totenstadt bisher gefunden.
Jedes Jahr verbringt die Ägyptologin etwa einen Monat vor Ort, meist während der winterlichen Semesterferien. Den Rest des Jahres lehrt und forscht sie in Basel.
Die Ausgrabungszeit vor Ort sei ein sehr spannender Teil ihrer Arbeit, sagt die 58-jährige Wissenschaftlerin: «Es ist ein ganz anderes Leben. Man arbeitet im Freien. Es ist anstrengend. Hinzu kommt, dass es in dieser Zeit in Oberägypten manchmal extrem kalt ist.»
Das Mumiengrab einer Sängerin
Zuweilen wird die anstrengende Arbeit in der Wüste mit einem speziellen Fund belohnt. Wie im Jahr 2011, als Bickels Team per Zufall auf ein noch unbekanntes Grab stiess. Das sei natürlich immer etwas Spezielles, erzählt die Archäologin. «Und es war dann noch spezieller, weil es ein Grab war, das nicht ausgeraubt vorgefunden wurde. Das ist sehr selten.»
In der Tat: Es war das erste neue Grab, das seit Howard Carters Entdeckung im Tal der Könige gefunden wurde. In der Grabkammer stiessen die Wissenschaftler auf einen Holz-Sarkophag mit der Mumie einer Frau. Die Hieroglyphen auf dem Sarg verrieten, dass es sich dabei um die Tochter eines Priesters handelte, die den Ehrentitel «Sängerin des Gottes Amun» trug.
Das schönste Grab hat arg gelitten
Solche Funde sind die Ausnahme. Meist stossen Ägyptologen auf Zerstörung. Auch das Grab von Sethos I., an dem das Basler Archäologie-Team arbeitet, ist stark beschädigt. Die Ruhestätte des Pharaos Sethos I. gilt als eines der schönsten im Tal der Könige.
Ursprünglich reich dekoriert mit Wandgemälden und Reliefs, hat die Anlage seit ihrer Entdeckung vor gut 200 Jahren stark gelitten. Die leuchtenden Farben von einst sind ausgebleicht. Überall hat sich Russ von den Kerzen und Fackeln früherer Besucher abgelagert. Vandalen haben Teile der Reliefs abgetragen oder die Wände auf der Suche nach versteckten Kammern beschädigt.
Ein Puzzle mit 8000 Teilen
Hier besteht die Herausforderung darin, die Trümmer der Wanddekoration wie Puzzle-Teile wieder zusammenzufügen. Die insgesamt über 8000 Fragmente an ihrem Originalort wieder zusammenzusetzen sei unmöglich, meint Susanne Bickel. «Hier geht es darum, das Grab mit heutigen digitalen Methoden vollständig zu dokumentieren», erklärt die Professorin.
Dafür erfassen hochauflösende 3-D-Laserscanner die Einzelteile. Anhand dieser Daten können die Forscher simulieren, wie das Grab ursprünglich ausgesehen hat und dann virtuelle 3-D-Modelle oder originalgetreue Nachbildungen erstellen.
Virtuelle Fundobjekte untersuchen
Solche modernen Bildtechnologien sind für Ägyptologen heute besonders wichtig, auch weil archäologische Gegenstände das Land nicht verlassen dürfen. Dank der Bilddaten können Susanne Bickel und ihr Team ihre Fundobjekte auch in ihrem Basler Büro studieren.
Die digitalen Aufnahmen seien teils so detailliert, dass man anhand der Pinselstriche erkenne, welche Malereien von demselben Künstler stammten, schwärmt die Archäologin.
Palmyra lebt digital weiter
Wie wertvoll solche präzisen archäologischen Daten sein können, zeigt das Beispiel der antiken Stadt Palmyra in Syrien. Der IS hat dort viele historische Gebäude zerstört. Weil einiges zuvor digitalisiert worden war, konnte Palmyra zumindest virtuell wiederauferstehen.
In der Archäologie kommen heute verschiedene moderne Technologien zum Einsatz. Das führt zuweilen zu neuen Entdeckungen – auch bei gut untersuchten Objekten.
Vor gut einem Jahr hat ein internationales Forscherteam in der Cheops-Pyramide einen bisher unbekannten Hohlraum gefunden. Dafür hatten die Wissenschaftler Elementarteilchen gemessen, sogenannte Myonen, die als Nebenprodukt kosmischer Strahlung entstehen und nur teilweise vom Gestein absorbiert werden.
Röntgenblick unter die Erdoberfläche
Dank spezieller Scanner können Archäologen heute unter die Erdoberfläche blicken, ohne eine Schaufel zur Hand zu nehmen. Die «Lidar» genannte Technik funktioniert ähnlich wie ein Radar, nur werden statt Radiowellen Laser-Impulse eingesetzt.
Die reflektierten Laserstrahlen erzeugen ein dreidimensionales Bild, das unterirdische Strukturen sichtbar macht. So haben Forscher unter dem Dschungel Guatemalas letztes Jahr tausende Maya-Ruinen aus vorkolumbianischer Zeit entdeckt.
Dass mithilfe dieser Technik ganze Städte sichtbar werden, begeistert Susanne Bickel. Von der Idee, das Tal der Könige nun systematisch abzuscannen, hält sie trotzdem wenig: «Ich finde, dort macht es nicht viel Sinn – vor allem, weil es noch so viel zu dokumentieren gibt, das bereits gefunden wurde.»
Vieles ist möglich, nicht alles ist sinnvoll
Man habe jetzt schon genug damit zu tun, die bisherigen Funde aufzuarbeiten. Zudem werden wöchentlich neue Entdeckungen gemacht. «Wenn man die Funde nachher nicht richtig dokumentieren und konservieren kann, sind sie verloren und wertlos», so die Wissenschaftlerin.
Für Susanne Bickel ist klar: Der technische Fortschritt eröffnet der Archäologie viele neue Möglichkeiten. Man sei aber auch erst dabei, herauszufinden, wie man Technologien am besten einsetzt. «Im Moment sind wir in der Phase: Neu ist so vieles möglich», sagt die Ägyptologie-Professorin. «Es wird sich wahrscheinlich erst mit der Zeit herausstellen, was wirklich nützlich und sinnvoll ist – und wofür.»
Der Computer ersetzt den Zeichenstift nicht
Die neuen Möglichkeiten werden die althergebrachten Methoden auch nicht komplett ersetzen. «In der Archäologie erstellen wir nach wie vor Zeichnungen. Man entdeckt sehr viel, wenn man ein Objekt stundenlang in der Hand hält und es zeichnet.» Deshalb brauche es beides.
Seit vier Jahrzehnten befasst sich Susanne Bickel intensiv mit den Überresten der alten Ägypter. Dabei stellt sie auch fest, wie stark sich diese Hochkultur über die knapp 3000 Jahre ihrer Existenz verändert hatte: «Man baute zum Beispiel immer grösser und immer perfekter. Man sieht, wie sich die Sprache oder religiöse Überlegungen entwickelten.»
Es war nicht schon immer so
Der Blick in die Vergangenheit zeige auf: Es ist normal, dass Kulturen sich wandeln. «Man hat heute immer das Gefühl: Wir kennen unsere Kultur. Wir wissen, was es bedeutet, Schweizer zu sein. Es war immer so.» Doch das sei sicherlich falsch, sagt die Basler Ägyptologin: «Schon damals gab es viel gesellschaftliche Durchmischung. Völker haben sich kennengelernt und gegenseitig beeinflusst.»
Es sei immer alles in Bewegung. Das merke der Einzelne kaum. «Aber wenn man einen längeren Zeitraum betrachtet, sieht man, wie sich die Dinge verändern – und dass Kultur etwas Dynamisches ist.»