Der Duft von frischem Brot oder einem geliebten Menschen. Der Geruch von gewaschener Bettwäsche oder einer gemähten Wiese – die meisten von uns sind wohl unmittelbar berührt, wenn sie solches erschnüffeln.
Trotzdem bringen wir unserem Geruchssinn meist wenig Wertschätzung entgegen. Jeder zweite junge Mensch gab in einer Befragung an , lieber auf den Geruchssinn zu verzichten als aufs Handy . Auch in der Wissenschaft muss dieser Sinn oft hinten anstehen – hinter der Forschung zum Sehen und Hören. Geruchssinnforschung gilt als nischig und wer sie betreibt, als nerdig.
Darwins Irrtum
Selbst Charles Darwin hielt nicht viel von der Nase des Menschen. Der Geruchssinn sei kaum mehr als ein Überbleibsel eines fernen, vormenschlichen Urahnen und für den modernen Menschen nur von «extremely slight service», von äusserst geringem Nutzen also.
Mit dieser Einschätzung hatte der legendäre Evolutionsforscher für einmal keinen guten Riecher. «Unser Geruchssinn ist viel besser, als wir meinen. Er wirkt in vielen Lebenssituationen auf uns ein, ohne dass wir es merken», sagt der Schweizer Geruchsforscher Johannes Frasnelli von der Université du Québec à Trois-Rivières .
Wir sind nämlich überraschend präzise und schnelle Schnüffler. Das bestätigt eine neue Studie . Menschen können innerhalb von wenigen Millisekunden unterscheiden, welche Düfte in einem einzigen Atemzug in ihre Nase ziehen und in welchem Abstand.
Unser Gehirn dreht ständig Geruchsvideos
Bis anhin galt, der menschliche Geruchssinn nehme mit jedem Atemzug ein kompaktes Duftbild wahr. Im Gehirn treffe je eine Duftpostkarte pro Atemzug ein. Jetzt zeigt sich, dass der Geruchssinn den Zieleinlauf einzelner Geruchsmoleküle auseinanderhalten kann: Zwiebel kam zuerst, Zitrone war später – und zwar in leichtathletisch minimalsten Sprintfinish-Einheiten: «Der Geruchssinn macht nicht einfach ein Foto von dem, was in die Nase eindringt. Sondern er filmt sozusagen, was da nacheinander einläuft», so Johannes Frasnelli.
Die Geruchsreize werden auf dem kurzen Dienstweg von der Nase ins Innere des Gehirns weitergereicht. Der Duftpfad ist eine Abkürzung. Darum reagiert der Mensch sehr schnell und oft unbewusst auf Gerüche. Anders als die anderen Sinneseindrücke werden Geruchsreize nicht durch den Thalamus geleitet – also durch das sogenannte Tor zum Bewusstsein –, sondern sie zielen direkt ins limbische System.
Gerüche sind eng mit Erinnerungen und Emotionen verbunden
Das limbische System ist ein evolutionär sehr altes Areal, das mit Erinnern und Gefühlen zu tun hat und mit der Einschätzung, ob eine Situation gefährlich ist. Das ist der Grund, weshalb Gerüche schnell intensive Erinnerungen und Emotionen auslösen können.
Gerüche verwandeln Vergangenheit in Gegenwart. Als wäre damals heute – im Guten wie im Schlechten. Jedes Geruchsmolekül wird im Erinnerungszentrum abgespeichert, zusammen mit der Emotion, die es ausgelöst hat. Darum kann ein und derselbe Geruch bei verschiedenen Menschen verschiedene Gefühle auslösen. Je nachdem, mit welcher Erinnerung wir den Geruch verbinden.
Der Duft von frisch gebackenen Weihnachtsguetzli erinnert die einen an die magischsten Momente ihrer Kindheit und andere an den jährlichen Familienkrach unter dem Weihnachtsbaum. Der Geruch von gegrilltem Fleisch weckt bei vielen Erinnerungen an schöne Sommerabende. Bei Kriegsopfern und traumatisierten Veteranen aber triggert es Bilder von verbrannten Menschen.
Viele Duftnoten, wenig Worte
Gerüche beeinflussen uns sehr direkt und intensiv. Andererseits ist es sehr schwierig, sich Gerüche vorzustellen und zu beschreiben, sagt Johannes Frasnelli: «Wenn ich Sie frage, wie eine Erdbeere riecht, denken sie an eine Erdbeere, schnüffeln vielleicht ein bisschen und können sich eventuell den Geruch ein wenig vorstellen. Das ist aber viel, viel schwieriger, als das Bild einer Erdbeere vors innere Auge zu holen.»
Wie viele Gerüche der Mensch unterscheiden kann, wissen selbst die Forschenden nicht. Es gibt kaum belastbare Zahlen. Die Geruchswahrnehmung ist viel schwieriger zu testen als der Seh- oder der Hörsinn. Vermutlich können wir ein paar Tausend Düfte auseinanderhalten. Ein gesunder Mensch unterscheidet vermutlich etwa 10'000 Gerüche.
Das Schlüssel-Schloss-Prinzip in unserer Nase
Was man weiss: Wir haben in unserer Nase etwa zehn Millionen Riechzellen und diese speziellen Nervenzellen unterteilen sich wiederum in etwa vierhundert unterschiedliche Arten. Diese Arten haben Geruchsrezeptoren, die jeweils auf bestimmte Duftmoleküle spezialisiert sind. Das funktioniert wie ein Schlüssel-Schloss-Prinzip. Ein Duftmolekül kommt in die Nase geschwebt und wenn es den zu ihm passenden Rezeptor erreicht hat, dockt es an. Das Schloss geht quasi auf. Es entsteht eine elektrische Erregung und dieser Reiz wird ins Gehirn weitergeleitet. Aus Chemie wird Physik.
Weil wir meist ein Gemisch von verschiedenen Düften in jeweils unterschiedlichen Konzentrationen einatmen, erreichen uns unglaublich viele Kombinationen in unterschiedlichsten Dosierungen. Geruchsforscher wie Johannes Frasnelli denken daher, dass wir vielleicht sogar Millionen von Düften unterscheiden können. Düfte, die uns nicht nur am Leben erhalten wie im Fall von Gefahren, sondern auch zu Lebendigkeit verhelfen.
Der Verlust des Geruchssinns geht ans Lebendige
Menschen, die den Geruchssinn verlieren, verlieren oft auch die Freude am Essen und Trinken. Viele sind verunsichert, weil sie Gefahren wie Rauch nicht mehr riechen. Und nicht wenige plagt die Angst, dass sie schlechte Körpergerüche haben könnten, ohne es zu merken. Waschzwänge und sozialer Rückzug können die Folge sein.
Was wir alle kennen: vorübergehende Nasentaubheit bei Erkältungen. Die Nasengänge schwellen zu und die Zahnpasta riecht nach nichts. Auch neurologische Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson können mit Geruchsverlust vergesellschaftet sein. Auch Unfälle, meist Schädelbasisbrüche, können Riechnerv dauerhaft beschädigen.
Der häufigste Grund für den allmählichen Verlust des Geruchssinns aber ist das Alter. Ab vierzig Jahren riechen wir zunehmend schlechter. Subjektiv spürbar wirds in der Regel erst ab sechzig oder siebzig. Die Zahl der Riechzellen nimmt übers Leben ab. Und die Gerüche verblassen. Das ist ein Grund, warum ältere Menschen oft gerne Süsses essen. Süss ist zwar ein Geschmack, aber er vermittelt den Eindruck, auch intensiver riechen zu können.
Babys sind die Superschnüffler
Die besten Schnüffler sind die ganz Kleinen. Schon das Ungeborene kann Riechen und Schmecken. Der Geruchssinn reift komplett im Mutterleib und er entwickelt sich früher als das Hören oder Sehen. Schon ein Embryo nimmt wahr, was seine Mutter isst, welche Gerüche sie mag und welche nicht. Sodass Kinder häufig das Essen bevorzugen, das ihre Mutter während der Schwangerschaft gerne gegessen hat, und Gerüche negativ empfinden, die ihre Mutter nicht mochte.
Kinder sind also hochbegabte Riecher. Ein Neugeborenes hat etwa doppelt so viele Riechzellen wie ein Erwachsener. Das hilft ihm, die Brust der Mutter zu finden und seine Mutter schon ab dem vierten Lebenstag am Geruch zu erkennen.
Bei der Mutter wiederum aktiviert der Geruch des Babys das Belohnungszentrum im Gehirn. Sie fühlt sich gut, wenn sie mit dem Baby zusammen ist und das wiederum stärkt die Bindung zwischen den beiden. Auch das ein evolutionärer Vorteil. Im Verlauf der Entwicklung eines Kindes wird dann aber der Sehsinn immer wichtiger und verdrängt den Geruchssinn teilweise. Aus dem Nasetierchen wird zunehmend ein Augentierchen.
Der erste Sinn des Lebens
Der Geruchssinn ist fürs Leben auf der Erde ausserordentlich wichtig. Er ist der älteste Sinn. Er ist in der Evolution noch vor dem Seh- und Hörvermögen entstanden und war schon im Urmeer von elementarer Bedeutung – also dort, wo das erste Leben entstanden ist.
Frühe Landtiere wie Krokodile und Eidechsen konnten besser mit dem Geruchssinn kommunizieren und sich orientieren als mit dem Sehsinn. Mit der Nase erschnüffelten sie, wo es Nahrung hat, wo Feinde sind oder geeignete Paarungspartner – und das über weit grössere Distanzen als das Auge erfassen kann. Bei vielen Tieren ist der Geruchssinn noch heute der wichtigste Sinn.
Warum wir manche Menschen gut riechen können
Gerüche beeinflussen auch den Menschen, mehr als er glaubt. Zum Beispiel in seinem Sozialverhalten. Wir können beispielsweise Infekte wahrnehmen. Kranke Menschen riechen anders und wir halten intuitiv Abstand. Wir riechen Angstschweiss und den Stress unseres Gegenübers. Und wir riechen Sympathie. Auch da entscheidet die Biologie mit.
Die Duftmoleküle, die ein Mensch absondert, verraten viel über ihn. Sie enthalten Informationen über dessen Erbgut und Immunsystem. Bestimmte Immun-Gene beeinflussen den Körpergeruch und wir riechen unbewusst, wie ähnlich das Immunsystem eines möglichen Partners oder einer Partnerin dem eigenen Immunsystem ist. Je ähnlicher, desto weniger gut für den Nachwuchs.
Du bist mir zu nahe, darum meide ich dich
Darum meiden Tiere und Menschen vermutlich potenzielle Partner mit ähnlichem Immunsystem. Wählt man hingegen einen genetisch stark unterschiedlichen Partner, hat der Nachwuchs eine grössere Genvielfalt und ein kleineres Risiko für genetisch bedingte Krankheiten.
Nach demselben Prinzip funktioniert vermutlich auch die Inzestschwelle. Verwandte teilen Gene, riechen ähnlich und sollten sich nicht untereinander fortpflanzen. Tatsächlich können sich nah Verwandte im Erwachsenenalter oft nicht mehr riechen – also rein geruchsmässig natürlich. Bei Freundschaften soll es genau umgekehrt sein: Wir wählen bevorzugt Menschen als Freundinnen, die ähnlich riechen wie wir.
Die Vier- und Sechsbeinigen könnens am besten
Bei den Menschen habe die Jüngsten die beste Nase. Bei den Tieren sinds ebenfalls die Kleinen: die Insekten. Die meisten Insekten haben einen extrem guten Geruchssinn. Mit ihren Antennen riechen Malariamücken Schweissfüsse über weiteste Distanzen. Fliegen nehmen faules Fleisch wahr. Ameisen erkennen einander am Geruch. Und kleine Nachtfalter wittern ihre Partnerin selbst in hochgradig verdünnter Dosis.
Geruchsforscher Bill Hanson bringt folgendes Beispiel: «Würde jemand ein Kilo Zucker in der Ostsee verrühren, wir würdens nicht merken. Der kleine Schwärmer dagegen schon.» Er ist trainiert – im Dienst der Fortpflanzung. Um zu seiner Partnerin zu fliegen, muss er riechen können, wo sie gerade herumflattert. Das kann der Falter ausserordentlich gut: Er nimmt in einem Kubikmeter Luft bereits einige wenige Duftmoleküle wahr. Wir Menschen bräuchten zweihundert Millionen Moleküle, um unsere Geliebte zu riechen.
Die Hundenase macht uns platt
Und dann sind da natürlich die Hunde. Sie sind spitze, sofern ihnen die Nase nicht flach gezüchtet wurde. Hunde riechen tausend- bis zehntausendmal besser als wir Menschen. Eine Hundeschnauze ist eine ganz andere Spielklasse als eine Menschennase. Ein Schäferhund hat hundertsiebzigmal mehr Platz in seiner Nase als der Mensch. Der Bluthund, ein Superschnüffler unter den Hunden, hat dreihundert Millionen Riechzellen in seiner Schnauze, ein Mensch höchstens zehn Millionen.
Hunde sind so geruchsbegabt, dass sie eine Duftspur wahrnehmen können, die bis zu anderthalb Kilometer entfernt ist – bevorzugt, wenn der Duft von einer läufigen Hündin kommt. Ein Hund kann die Luft, die er einatmet, länger in der Schnauze behalten. Er hat dort eine Art Geruchsnische. So bleibt ihm mehr Zeit, um zu zerlegen, was ihm olfaktorisch entgegenfliegt.
Hunde haben noch weitere Tricks auf Lager. Ein Hund kann zum Beispiel sein linkes und sein rechtes Nasenloch unabhängig voneinander ansteuern und benutzen. Das hilft ihm, zu merken, woher ein Geruch kommt. Um besonders gut an einer Duftmarke schnuppern zu können, hat er an den Nasenlöchern seitliche Schlitze zum Ausatmen. Er pustet also die ausgeatmete Luft nicht wieder auf die Duftquelle, sondern er kann wie ein Staubsauger den Geruch sehr effizient einsaugen und seitlich ausatmen.
Der Geruchssinn lässt sich trainieren
Da kann der Mensch nicht mithalten. Auch wenn die Menschennase Studie um Studie rehabilitiert wird. Schnüffelnd im Labor und auf allen Vieren draussen im Feld. Auch das kann der Mensch.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der University of California Berkeley liessen Studierende durchs Gras kriechen und einer Geruchsspur folgen . Freiwillig selbstverständlich. Das ging erstaunlich gut und zunehmend besser. Die Versuchspersonen trainierten ihren Geruchssinn und wurden von Mal zu Mal olfaktorisch agiler.
Welcher Fährte sie folgten? Einer lustvollen! Die Spur roch nach Schokolade.