Schroffe Felsen, tiefe Schluchten, grüne Wiesen – in dieser idyllischen Landschaft unweit von Savognin hat vermutlich im Sommer 15 v. Chr. eine strategisch wichtige Schlacht der römischen Geschichte stattgefunden. Dies geht aus einem antiken Gefechtsfeld bei der Crap-Ses-Schlucht mit Überresten von Schwertern, Lanzenspitzen und Hunderten von Bleigeschossen sowie einem römischen Militärlager hervor, dessen Entdeckung vor kurzem auch international für Schlagzeilen sorgte.
Kaiser Augustus ist damals auf Expansionskurs und will unbedingt die Germania magna erobern. «Das konnte aber nur gelingen, wenn Rom auch den direkten Weg über die rätischen Alpen kontrollierte», erklärt Peter Schwarz, Inhaber der Vindonissa-Professur an der Universität Basel.
Augustus’ Stiefsöhne haben bereits zwei anderen Routen genommen: Tiberius, im Westen, von Lyon aus zum Bodensee hin (in der Karte gelb markiert) und sein jüngerer Bruder, Drusus, im Osten, über den Brennerpass und den Reschenpass (in der Karte blau markiert).
«Doch für die dritte Route durch die heutige Schweiz fehlten bislang eindeutige archäologische Hinweise», erklärt Schwarz. Die vielen Funde in Graubünden liefern nun aber immer mehr Beweise, dass die Römer auf dem alten Säumerpfad über den Septimerpass nach Norden marschiert sind. Angeführt wird die damalige Truppe mit mehr als tausend Soldaten sehr wahrscheinlich vom Unterfeldherrn Lucius Calpurnius Piso Pontifex.
Räter gegen Römer
Die in den Alpen ansässigen Suaneten besitzen im Vergleich zu den Römern ein deutlich kleineres Heer an Kriegern. Irgendwie haben sie über den Vormarsch der feindlichen Truppen erfahren. Obwohl sie anscheinend mit allen Mitteln erbitterten Widerstand leisten, sind sie der Übermacht der römischen Kriegsmaschinerie letztlich nicht gewachsen.
Das Gefecht bei der Crap Ses gegen die rätischen Stammesverbände markiert einen historischen Wendepunkt: Es war der Beginn der über 400 Jahre andauernden römischen Besatzung der heutigen Schweiz.
«Zum Sieg der Römer hat auch der Einsatz einer militärischen Taskforce aus Schleuderern beigetragen, die ihre Gegner mit einem Hagel aus Bleigeschossen attackiert haben», betont Schwarz.
Die Spuren der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Einheimischen und den römischen Soldaten stecken immer noch im Boden. Mit Metalldetektoren liess sich die antike Bleimunition im Schlachtfeld aufspüren. Mehr als 450 Stück wurden dort bereits ausgegraben. «Nirgendwo sonst wurden bisher so viele antike Bleigeschosse auf einem so hoch gelegenen Gefechtsplatz auf 1300 Meter über Meer gefunden», sagt Hannes Flück, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Archäologischen Dienst Graubünden.
Um die Treffsicherheit und Schlagkraft der römischen Schleuderbleie zu untersuchen, hat ein interdisziplinäres Team Versuche auf dem antiken Gefechtsfeld bei Savognin und auf einem Schiessplatz der Schweizer Armee in der Nähe von Yverdon durchgeführt. Sie wollten herausfinden, ob sich auf dem steilen Hang überhaupt ein Objekt aus der Ferne gezielt anpeilen lässt. Und auch, wie schnell die kleinen Metallgeschosse durch die Luft fliegen.
Weil dies nicht ohne entsprechende Erfahrung und Übung geht, kommt für die wissenschaftliche Untersuchung extra der Schleuderweltmeister Silvio Vass aus Deutschland. Vor Ort demonstriert er die Technik und Effizienz der Waffe. Ähnlich wie bei einem Lasso schwingt er nun die Schlaufe der Schleuder über dem Kopf. Und unmittelbar danach knallt die Bleimunition auf eine mehr als zwanzig Meter entfernte Zielscheibe.
Die Schleudern der Legionäre bestehen damals aus einem geflochtenen Riemen aus Hanf, der in der Mitte eine Verbreitung für das rund vier Zentimeter grosse, aprikosenkernförmige Stück Blei hatte. Wegen der Fliehkraft, die bei der schnellen, kreisenden Bewegung entsteht, kann das rund fünfzig Gramm schwere Geschoss nicht herausfallen. Genau im richtigen Moment lässt Silvio Vass jetzt das eine Ende der Schleuder los, um das Blei auf die gewünschte Flugbahn zu schicken.
Prasseln nun wie damals auf dem Schlachtfeld Hunderte solcher Geschosse wie aus dem Nichts auf die Gegner herab, knallen sie laut auf deren Schutzschilde. «Der Angegriffene weiss dann nicht mehr, woher sie kommen und wie er sich davor schützen kann», sagt Schwarz. Dies hat sicherlich auch eine furchteinflössende Wirkung gehabt.
Bleigeschoss mit 130 km/h
Doch damit nicht genug: Die während der Freilandversuche in Graubünden und in der Romandie durchgeführten Messungen mit einem sogenannten Doppler-Radar haben gezeigt, dass Schleuderbleie eine Geschwindigkeit von 130 Kilometer pro Stunde erreichen können. Dies entspricht etwa einem Zehntel der Geschwindigkeit, die eine Kugel eines 44er-Magnum-Revolvers erreicht, und kann je nachdem tödlich sein.
Mit viel Aufwand untersuchen die Schweizer Forschenden nun zum ersten Mal auch die Schiesseigenschaften und Durchschlagskraft der römischen Distanzwaffe. Dazu arbeiten sie mit Fachleuten vom Forensischen Institut des Polizei- und Justizdepartements in Zürich sowie dem Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern zusammen und nutzen Methoden der Kriminaltechnik sowie auch der Bauwirtschaft. Mithilfe einer Kopfattrappe lässt sich rekonstruieren, welche Art von Verletzungen durch den Einsatz der Schleuder entstehen können.
Um die Flugbahn und Geschwindigkeit der römischen Munition im Zürcher Versuchsraum zu simulieren, benutzt das interdisziplinäre Team eine Druckluftkanone. Diese wird üblicherweise eingesetzt, um Dachziegel und andere Baumaterialien mit Eiskugeln zu beschiessen und deren Widerstandsfähigkeit gegen Hagelkörner zu testen. Ein sogenannter Treibspiegel aus Kunststoff sorgt zudem dafür, dass die Bleigeschosse gleich fliegen wie diejenigen, die mit einer antiken Schleuder verschossen werden und hochkant im Ziel einschlagen.
Mit Folgen: Der forensische Schädel weist zahlreiche Risse auf. Die gelartige Masse im Inneren der Kopfattrappe hat ebenfalls stark gelitten und zeigt deutliche Spuren von Quetschungen, die theoretisch zu verheerenden Gehirnverletzungen führen könnten. Auch das Tragen eines Helms hat damals wahrscheinlich gravierende Schädelverletzungen nicht verhindern können.
Keine gleich langen Spiesse
Auf dem Gefechtsplatz bei der Crap-Ses-Schlucht ist die Situation besonders schwierig, weil die starke Hangneigung die Flugbahn verkürzt, was wiederum Auswirkungen auf die Treffgenauigkeit hat. Dennoch sind die Römer zu jener Zeit im Vorteil, da sie in ihrem grossen Heer auch speziell ausgebildete Schleuderer dabei haben.
Beim Alpenfeldzug im Surses wird also nicht mit gleich langen Spiessen gekämpft. «Dennoch waren die heimischen Krieger keinesfalls unerfahrene Hinterwälder, sondern versierte Kämpfer, die zudem mit den örtlichen Gegebenheiten bestens vertraut waren», sagt Schwarz. Entsprechend haben sie den Ort des Gefechtes bestimmt, sodass die Römer von unten her angreifen müssen. Diesen Nachteil können die römischen Legionäre aber letztlich durch den cleveren Einsatz von Schleuderbleien ausgleichen.
Weitere Experimente mit einem Modell aus nachgebauten Knochen und Gewebe zeigen zudem, dass die damaligen Bleigeschosse auch andere schwere Verletzungen verursachen konnten: Sie waren in der Lage, Unterarmknochen vollständig zu zertrümmern und schwere Frakturen an den Oberarmknochen zu verursachen. Zum Vergleich werden zusätzlich Schüsse aus einem 44er-Magnum-Revolver abgegeben, der allerdings eine noch viel grössere Wucht hat.
Mit der ausgefeilten Schleudertechnik treiben die Römer ihre rätischen Widersacher mutmasslich in die Enge und setzen sie aufgrund der starken Verletzungen wohl alsbald auch ausser Gefecht. Allein das Auftreffen eines Schleuderbleis auf den Kettenpanzer kann einen traumatischen Schock verursachen, teils mit tödlicher Wirkung.
Suche nach der «Smoking Gun»
«Wir gehen davon aus, dass wir bisher nur einen Bruchteil der damals verschossenen Schleuderbleie gefunden haben», sagt Hannes Flück. Zum einen, weil ein Teil der Geschosse tief in den Boden eingedrungen sei, zum anderen, weil der Sieger das Schlachtfeld gezielt nach wiederverwertbaren Waffen abgesucht und geplündert habe.
Dennoch würden sie in diesem Gebiet weiterhin neue Objekte aus der damaligen Zeit finden und diese wie bei einem Puzzle Stück für Stück zum plausibelsten Szenario zusammenfügen, sagt Flück. Immer auf der Suche nach der «Smoking Gun», dem ultimativen Beweis der einstigen Militäroperation vor mehr als 2000 Jahren, mit einer römischen Siegesinschrift: «Pontifex war hier».
Auf dem Weg von Como bis zum Septimerpass müssen die schwer gepanzerten römischen Soldaten damals über 2000 Höhenmeter bewältigen. Dies auf einem alten, schmalen Säumerpfad, der sicher mindestens seit der Bronzezeit existierte. Der Alpenfeldzug war also auch eine enorme logistische Meisterleistung, wie eine wissenschaftliche Expedition in die damalige Zeit für das Schweizer Forschungsprojekt untermauert.