Herr Bosshart, im aktuellen «European Food Trends Report» stellen Sie fest, dass wir beim Essen immer mehr übers Essen reden. Sind wir heute alle Food-Experten?
Ernährung hat heute einen sehr hohen Stellenwert. Was ich koche, wen ich einlade, welche Produkte ich verwerte, hat markant an Bedeutung gewonnen. Bei den Männern ist es vor allem die Kennerschaft beim Wein oder Fleisch, die zählt. Da entstehen regelrechte Wettbewerbe. Bei den Frauen steht mehr das Soziale im Vordergrund, dass sich die Leute wohl fühlen. Vor allem aber geht es um soziale Abgrenzung. Nach unserer Erfahrung kommt dieser Trend von einer gebildeten urbanen Schicht, die den bewussten Konsum fast schon religiös pflegt.
Essens-Know-How ist also ein Statussymbol?
Wer heute nicht einigermassen klug über Produkte sprechen kann, über ihre Herkunft und die Qualität, hat eindeutig ein Manko. Das können Sie vor allem in den USA sehen: Es ist wichtiger geworden, sich mit Essen auszukennen, als ein Protzauto zu fahren oder ein schönes Penthaus zu haben.
Sie geben seit 2008 den «European Food Trends Report» heraus – wie hat sich unsere Esskultur in den letzten Jahren entwickelt?
Sicherlich kann man sagen, der Treiber ist das Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Romantik. Auf der einen Seite wird unsere Ernährung extrem von Wissenschaft und Technologie getrieben. Sie wird immer komplexer und anspruchsvoller. Auf der anderen Seite wächst bei den Konsumenten das Bedürfnis nach Romantik, damit meine ich Überschaubarkeit und Verständlichkeit. Wegen dieser Sehnsucht der Menschen, mehr über ihre Nahrungsmittel zu erfahren, boomen Produkte aus der Region auch viel mehr als Bioprodukte. Wenn man sieht, wo die Ware herkommt, schafft das Vertrauen. Und für die Trendsetter wird es eben immer wichtiger, in Sachen Food Kompetenzen zu besitzen.
Wieso ist es so wichtig geworden, über Essen Bescheid zu wissen?
Link zur Studie
Weil wir wissen, dass zurzeit fundamentale globale Änderungen geschehen. Wir wissen, dass wir nicht neun Milliarden Menschen so ernähren können, wie wir das in der westlichen Welt gewohnt sind. In der Landwirtschaft sind die Produktivitätsfortschritte limitiert und auch die Düngemittel sind endlich. Selbst wenn Sie gentechnisch produzieren, brauchen Sie noch immer Kalium und Phosphor. Auch die Übernutzung der Böden und die Überfischung spielen eine grosse Rolle. Wir brauchen immer mehr Molkereiprodukte, Käse, Milch, Fleisch. Für die Welt produzieren, wie es derzeit für vielleicht 1,5 Milliarden Wohlstandsmenschen geschieht, ist schlicht nicht möglich.
Aber denken wir im Supermarkt nicht viel eher an unsere Gelüste? Oder daran, was wir am Abend für die Freunde kochen wollen, als an die Welternährungslage der Zukunft?
Es ist wohl das Bauchgefühl, das hier eine Rolle spielt. Die Menschen merken, dass die Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Romantik immer grösser wird – die zunehmenden Lebensmittelskandale sind nur ein Beispiel. Wenn sich die Ernährungsgewohnheiten ändern, dann ändert sich das Lebensgefühl und die Menschen ahnen, dass grosse Änderungen im Gange sind. Unsere Klamotten ändern sich relativ rasch, wir können auch die Automobil-Marke wechseln, aber wenn sich die Gewohnheiten des Essens fundamental ändern, dann beeinflusst das unser ganzes Leben.
Ist also das neue Interesse am Essen auch eine politische Aussage?
Gerade bei vielen jungen Menschen ist die Ernährung tatsächlich zu einer Religion geworden. Ich bin in den 1970er-Jahren gross geworden, mit Marx und Mao. Heute werden die Jungen gross mit «Welche Körnli isst du?». Ob man Veganer, Vegetarier oder Flexitarier ist, wird wichtig. Da hat sich schon relativ viel verschoben.
Immer häufiger hört man, dass die Leute auf Fleisch verzichten. Gleichzeitig macht die Fleischbranche immer grössere Umsätze. Ist es einfach nur schick zu sagen, man sei Vegetarier?
Ja und nein. Auch das Gesundheitsbewusstsein spielt hier eine wichtige Rolle. Wir wissen heute einfach, dass zu viel Fleisch nicht bekömmlich ist. Leute, die wohlhabend sind und älter werden, beginnen weniger Fleisch zu essen, weil sie wissen, sie leben dann länger.
Vertical Farming heisst eine aufkommende Industrie, in der Gemüse und Obst unter idealen, aber künstlichen Licht- und Nährstoffbedingungen im Hochhaus am Fliessband gezogen werden. Werden solche Nahrungsmittel überhaupt akzeptiert werden?
Als Vision hat das schon lange existiert, aber nie funktioniert. Es ging um logistische und technologische Fragen, vor allem auch um den Energiepreis. Bei all diesen Themen sind wir heute einen Schritt weiter. Auch das Urban Farming wird immer wichtiger. Menschen, die in den Städten wohnen, ziehen Produkte wie Tomaten, Gurken oder Salate, die leicht herzustellen sind. Deshalb kann man sicher davon ausgehen, dass wir in Zukunft weniger Produkte permanent um den Planeten herum karren werden. Ich kann keine Prognose machen – aber vielleicht werden dereinst ein, fünf oder gar zehn Prozent der Produktion in der Stadt stattfinden.
Urban Farming, Essen zelebrieren – alles Insignien eines urbanen, gebildeten, kauffreudigen Publikums. Und welche Bedeutung hat das Essen beim Rest der Bevölkerung?
Da spielt die Beeinflussung eine grosse Rolle: Was wird angeboten, wie wird es präsentiert? Man kann die Leute natürlich dazu animieren, mehr frische Produkte und weniger Junkfood zu konsumieren. Da wird vieles politisch geregelt werden und die Gefahr besteht leider, dass wir in Zukunft mehr Verbote haben werden – doch dann ist Essen auf einmal nicht mehr lustvoll.