Überforderung, Depressionen, Suizidversuche: Noch nie ging es Schweizer Jugendlichen so schlecht. Das zeigen aktuelle Zahlen des Bundesamts für Statistik BFS, Studien der Kinder- und Jugendberatung ProJuventute und der CS-Jugendbarometer.
Warum trifft es gerade diejenigen so stark, die das Leben noch vor sich haben? Die deutsche Neurowissenschaftlerin Maren Urner hat ein Buch über das Hirn in der Krise geschrieben – und kennt Strategien, wie Jugendliche und Erwachsene aus dem Krisenmodus herausfinden.
SRF Wissen: Eine Krise folgt auf die Nächste. Was macht das mit dem Hirn eines Jugendlichen?
Maren Urner: Grundsätzlich sind Krisen für ein heranwachsendes Gehirn sehr wichtig – wenn sie dosiert auftreten. Momente, in denen es nicht so läuft, wie geplant, sind elementar. Dadurch werden neue neuronale Verbindungen geknüpft. Wir lernen, beim nächsten Mal anders zu handeln.
Krisen verändern das Gehirn also?
Genau – wie andere Erfahrungen auch. Diese Fähigkeit des Gehirns nennt sich «Neuroplastizität», die Grundvoraussetzung für jede Art von Lernen. In der Jugend ist die Plastizität am stärksten ausgeprägt, was dazu führt, dass jede Krise – egal wie gross – intensiver hängen bleibt.
Auch das Verhalten vieler Eltern ist kontraproduktiv.
Und deshalb geht es Jugendlichen so schlecht?
Unter anderem, ja. Aber auch das Verhalten vieler Eltern ist kontraproduktiv.
Wie meinen Sie das?
Gesamtgesellschaftlich beobachten wir, dass Eltern immer überfürsorglicher werden. Stichwort: Helikopter-Eltern. Das Problem ist, dass Kinder so nicht lernen, mit Krisensituationen umzugehen. Es ist immer jemand da, der Reibungen und Scheitern verhindert. Irgendwann sind Jugendliche aber nun mal auf sich allein gestellt – und haben nie gelernt, mit Unsicherheiten umzugehen.
Was trägt noch zur Überlastung bei?
In der Pubertät wird die eigene Identität gebildet, gleichzeitig richtet sich der Blick in die Zukunft: Wer bin ich jetzt? Wer will ich sein? Was habe ich und was brauche ich noch? Ist der Raum, der mit diesen Fragen aufgeht, zu gross, fühlen sich junge Menschen haltlos. In der Neurowissenschaft heisst das «Paradox of Choice», Paradox der Wahl.
Zu viele Möglichkeiten überfordern uns.
Genau. Studien zeigen, dass wenn wir zwischen sechs und 30 Marmeladensorten wählen können, zufriedener mit unserer Entscheidung sind, wenn wir nur sechs zur Auswahl haben.
Übertragen auf die Entwicklungsphase heisst das: Wenn das Gehirn aufgrund der endlosen Möglichkeiten keine Orientierung hat, und auch nicht gelernt hat, mit Krisen umzugehen, kommt es zu Überforderung.
Was sind die Folgen?
Anspannung. Eigentlich hilft sie uns, ob Teenie oder Erwachsener, bei akutem Stress, Kräfte zu mobilisieren. Aktuell kommen wir aber durch die gefühlte Omnipräsenz negativer News nicht mehr aus dem Überforderungsmodus raus. Dafür ist unser Gehirn nicht gemacht.
Und das heisst?
Dass wir die Regionen abschalten, die dafür da sind, langfristige Entscheidungen zu treffen.
Abschalten?
Ja. Wir befinden uns im Kampf-Flucht-Modus und die Regionen, die hinter der Stirn liegen, also der präfrontale Kortex, sind nicht mehr zugänglich. Der Teil ist aber wichtig für gut überlegte Entscheidungen und für zukunftsorientiertes Verhalten.
Wie kommen wir da wieder raus?
Indem wir unser Mindset auf «mutig» programmieren. Helfen kann dabei das «dynamische Denken». Es ist mein Gegenentwurf zum statischen Denken, das an Altem festhält. Wenn wir, egal in welchem Alter, den Mut haben, Dinge und Verhaltensweisen neu zu denken, entkommen wir dem Krisenmodus.
Das Gespräch führte Gina Buhl.