Lassen Sie uns etwas ausprobieren. Einmal Kopfhörer aufsetzen, bitte.
Jetzt Lautstärke hochdrehen und während dem Hören des folgenden Clips einfach mal abwarten, was passiert:
Was empfinden Sie?
Hunger? Lust auf einen knackig-saftigen Braeburn? Oder ist das, was sich in ihrer Magengegend breitmacht, eher Unbehagen, vielleicht sogar Aggression? Wut?
Die Suppe als akustischer Endgegner
Dann gehören Sie womöglich zu den sechs bis 20 Prozent der Weltbevölkerung, die unter Misophonie leiden.
Für Sie wird das Rüeblisnacken der Partnerin zum Horrortrip. Der Popcorn-Griff des Kino-Nachbarn zur inneren Zerreissprobe. Der Kugelschreiber in der Hand der Bankangestellten zum ultimativen Feind.
Misophonie-Betroffene leiden unter einer akustischen Überempfindlichkeit, einem «Hass auf Geräusche», wie die beiden griechischen Wortstämme «misos» = Hass und «phone» = Geräusch es bereits vermuten lassen.
Soziale Phobien und Essstörungen
Besagter Hass ist so gross, dass in extremen Fällen nicht einmal mehr gemeinsame Mittagspausen oder Filmabende möglich sind. Etwa zwei Prozent der Betroffenen entwickeln aufgrund des Geräusche-Hasses sogar soziale Phobien oder Essstörungen, wie Untersuchungen des US-amerikanischen Misophonia Institute zeigen.
Aber auch in weniger dramatischen Fällen ist der ausgelöste Stress messbar, wie eine Studie aus den Niederlanden zeigt: Bereits nach wenigen Sekunden beschleunigt sich bei Betroffenen Herzschlag und Atmung.
Traumatische Erlebnisse als Trigger
Der Grund für die akustische Intoleranz? Die beiden US-amerikanischen Neurowissenschaftler Pawel und Margaret Jastreboff, die das Phänomen 1990 erstmals untersuchten, vermuteten, dass traumatische Erlebnisse durch die Geräusche getriggert würden. Später wurde die Misophonie als Symptom einer Zwangsstörung aufgefasst.
Verstärkte Aufmerksamkeit und Emotionen
Eine Studie, die 2015 im Fachmagazin «Psychological Thought» publiziert wurde, zeigte eine erhöhte Aktivität des vorderen Inselkortex, des Bereichs in unserem Hirn also, in dem entschieden wird, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Misophonie-Betroffene konnten ihre Aufmerksamkeit deutlich schlechter von unwichtigen Geräuschen abwenden.
Ausserdem zeigte die Studie, dass Hirnregionen, die für Emotionen zuständig sind, bei den Betroffenen stärker aktiviert werden.
Kaumuskulatur ist Schuld
Die Überraschung folgte dann 2021, als der britische Neurowissenschaftler Sukhbinder Kumar aufzeigen konnte, dass der Geräusche-Hass womöglich gar nichts mit Geräuschen zu tun hat.
«Unsere Daten verdeutlichen, dass der Teil im Gehirn, der unserer Kaumuskulatur steuert, bei Misophonie-Patienten stärker aktiviert ist als bei Kontrollpersonen.» Dieser Teil sei ausserdem deutlich stärker mit dem Areal verbunden, der den Klang und das Sehen verarbeitet, erklärt der Forscher.
Angriff in den persönlichen Raum
Was das konkret bedeutet? «Dass das Gehirn von Misophonie-Betroffenen meint, dass sie selbst kauen würden, allein wenn sie einer anderen Person dabei zuhören oder zusehen.
Die Forschenden gehen also davon aus, dass diese Aktivierung der motorischen Areale als Verletzung des «persönlichen Raums» empfunden wird: «In unserer Untersuchung haben die Misophonie-Betroffenen die Geräusche als etwas beschrieben, das in ihren Körper eindringt.»
Was aber können die Betroffenen dagegen tun? Laut Kumar: Selber schmatzen, kauen und schlürfen. «Die Nachahmung der Handlung kann Erleichterung verschaffen, weil man dadurch das Gefühl bekommt, die Kontrolle über die Handlung zu haben und nicht «von aussen gesteuert» zu werden.» Klingt nach einem unterhaltsamen Abendessen.