Luiz wartet bereits im Eingangsbereich des modernen Betonbaus der Stadtpolizei Winterthur, als Polizist Oliver Wälchli eilig die Treppe herunterkommt, um ihn abzuholen.
Luiz (Name von der Redaktion geändert) ist heute nicht allein gekommen. Der 29-Jährige hat seine neue Freundin mitgebracht. Sie kennt Luiz seit drei Monaten. Kennengelernt haben sie sich kurz bevor Luiz für rund zwei Monate ins Gefängnis musste wegen Drohung, Nötigung und wiederholten Tätlichkeiten.
Die beiden wollen auch jetzt, wo Luiz wieder draussen ist, zusammenbleiben und planen eine gemeinsame Zukunft. Luiz hat bereits zwei Kinder mit zwei Ex-Partnerinnen.
Oliver Wälchli begrüsst beide schon fast herzlich, spricht kurz mit der Freundin und bittet dann Luiz, mit ihm ins Besprechungszimmer im ersten Stock zu kommen. Währenddessen nimmt die Freundin auf den Sitzgelegenheiten im Eingangsbereich Platz.
Partnerschaftliche Gewalt war bei Luiz in der Vergangenheit immer ein Thema.
Grund für Luiz’ Termin heute bei der Stadtpolizei Winterthur: eine sogenannte Gefährderansprache. Ein strukturiertes Gespräch, das von der Polizei mit einer Person geführt wird, die als potenziell gefährlich eingestuft wird.
Während des ersten Gesprächs wird der Person erklärt, dass die Polizei Kenntnis von der Situation hat und das Verhalten der Person beobachtet wird. Es wird auch darauf hingewiesen, dass weitere Eskalationen zu rechtlichen Konsequenzen führen können.
Hilfsangebote in der Schweiz
Das Ziel der Gefährderansprache ist, potenzielle Gewalttaten zu verhindern, indem gefährliche Entwicklungen frühzeitig erkannt und entschärft werden. Luiz kennt diese Ansprachen. Es ist nicht seine erste. Wälchli und Luiz kennen sich schon seit Jahren.
Gefährderansprache soll Eskalation verhindern
Oliver Wälchli ist nicht irgendein Polizist, er ist Leiter des Gewaltschutzes der Stadtpolizei Winterthur und speziell ausgebildet, um Gefährderansprachen effektiv und sicher durchzuführen. In dem Gespräch heute geht es um Luiz’ Zukunft – und um die Zukunft der Person, die unten am Eingang wartet: der neuen Freundin von Luiz.
Wälchli sorgt sich um sie: «Sie ist einer gewissen Gefährdung ausgesetzt, weil partnerschaftliche Gewalt bei Luiz in der Vergangenheit immer ein Thema gewesen ist. Von Drohungen über körperliche bis sexuelle Gewalt.»
Wälchlis Aufgabe ist es nun, möglichst zu verhindern, dass Luiz gegenüber seiner neuen Freundin gewalttätig wird. Die regelmässigen Gespräche zwischen Wälchli und ihm sollen Luiz an seine Ziele erinnern: Ein geregeltes Leben führen, nicht mehr straffällig werden, soziale Medien meiden, mit denen er einen problematischen Umgang hat, auch den Testosteron- und Cannabiskonsum sein lassen.
Der Kontakt zwischen den beiden ist anhaltend und das Ziel klar: Eine potenzielle Gewalteskalation frühzeitig erkennen und verhindern. Während der Gespräche achtet Wälchli darum auf Warnverhalten. «Das können Wesensveränderungen sein», erläutert Wälchli, «auch subtile Drohungen, die plötzlich aufpoppen. Solches Verhalten kann auf eine bevorstehende Gewaltstraftat hinweisen.»
Gewalttäter sind der Polizei oft bereits bekannt
Schwere Gewaltstraftaten kommen in der Regel nicht aus heiter hellem Himmel. Mehrere tragische Fälle im Kanton Zürich haben dies deutlich gemacht: Im Sommer 2011 erschoss ein 60-jähriger Mann in Pfäffikon seine Frau und die Leiterin des örtlichen Sozialamts. Der Täter war der Polizei bekannt und hatte ein Kontaktverbot zu seiner Frau.
Im Jahr 2015 wurde eine 42-jährige Frau in Dübendorf von ihrem Ex-Partner Markus K. getötet. Sie hatte die Polizei mehrfach um Hilfe gebeten, aber die Reaktionen waren nicht ausreichend, um sie zu schützen. Die Untersuchung ergab, dass es Versäumnisse bei der Bewertung und Reaktion auf die Anfragen der Frau gegeben hatte – mit fatalem Ausgang.
Ich bin der Meinung, dass Gefährderansprachen vor allem im Stalking-Bereich sehr wirksam sind.
Auch dieser Vorfall führte zu einer intensiven Diskussion über die Notwendigkeit eines effektiveren Bedrohungsmanagements und besserer Schutzmassnahmen für gefährdete Personen.
Heute arbeiten die polizeilichen Fachstellen eng mit anderen Institutionen und Behörden zusammen, um gefährliche Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und zu entschärfen: mit Sozialarbeitern, Psychologinnen, Schulen oder auch der KESB.
Mit Gefährderansprachen Stalking stoppen
Gefährderansprachen kommen auch beim Stalking zum Zug. «Ich bin sogar der Meinung, dass Gefährderansprachen vor allem im Stalking-Bereich sehr wirksam sind», so Wälchli.
Der Stadtpolizei Winterthur wird eine führende Rolle im Umgang mit Stalking zugeschrieben. Alle Fälle, die nach Belästigung und Verfolgung klingen, gehen an die Abteilung Gewaltschutz, wo auch Wälchli tätig ist.
Gefährderansprachen passieren immer in Absprache mit dem Opfer. «Wer das ungute Gefühl hat, dass die belästigende Person eine rote Linie überschritten hat, sollte unbedingt auf uns zukommen», betont Wälchli. «Die Aussage ‹ich fühle mich belästigt von einer anderen Person› reicht uns, um auf den Täter zuzugehen.»
Die Polizei spricht dabei die verdächtigte Person direkt an, konfrontiert sie mit einem möglichen strafbaren Verhalten und warnt sie eindringlich, das belästigende Verhalten zu unterlassen. Danach bleibt die Polizei mit dem Stalking-Opfer in Kontakt, um die Wirkung der Gefährderansprache zu überprüfen.
Die Erfolgsquote der Gefährderansprachen
Tatsächlich zeigen Gefährderansprachen bei stalkenden Personen Wirkung. May Beyli ist Psychologin und Leiterin der Fachstelle «Forensic Assessment & Riskmanagement» an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Sie unterstützt und berät die Zürcher Polizeibehörden und die Staatsanwaltschaft bei der Risikoeinschätzung und beim Fallmanagement gewaltbereiter Personen.
Gefährderansprachen können dazu führen, dass das Stalking aufhört. Die Zahlen gehen von 50 bis fast 70 Prozent aus.
Auch mit Oliver Wälchli arbeitet sie eng zusammen. Sie meint: «Gefährderansprachen können dazu führen, dass das Stalking aufhört. Die Zahlen gehen von 50 bis fast 70 Prozent aus.»
Auch Natalie Schneiter, Beraterin bei der Fachstelle Häusliche Gewalt und Stalking-Beratung der Stadt Bern, bestätigt einen gewissen Erfolg und spricht von 50 Prozent der stalkenden Personen, die nach einer Gefährderansprache ihr Verhalten ändern.
Gerade bei den Ex-Partnerinnen und Ex-Partnern, die mit 46 Prozent aller stalkenden Personen den Grossteil ausmachen, zeigt sich laut Schneiter ein interessanter Effekt: «Die sind wie in einem Tunnel, fixiert auf die Ex-Beziehung. Eine Ansprache durch die Polizei oder auch eine andere Autoritätsperson, wie einen Anwalt, holt sie aus diesem Tunnel raus.» Wälchli selbst spricht aus seiner Erfahrung von einer enormen Erfolgsquote von 90 Prozent, wenn in einem frühen Stalking-Stadium interveniert wird.
Vor dem Haus stehen ist eine Red Flag
Auch bei einer Gefährderansprache im Stalking-Bereich kann es darum gehen, Gewalt zu verhindern. Und auch hier gibt es Warnzeichen, die Gewalt ankündigen.
«Stalking ist wirklich risikobehaftetes Verhalten für Gewalt», betont Wälchli. «Insbesondere bei Annäherungsverhalten, also wenn das stalkende Verhalten zum Beispiel zuerst online stattgefunden hat und dann zum Auftauchen am Wohnort wechselt. Da läuten bei mir alle Alarmglocken.»
Bei 25 bis 30 Prozent der Stalking-Fälle ist es schon in der Beziehung zu häuslicher Gewalt gekommen.
Ob es nach einer Trennung zum Stalking kommen könnte, zeichnet sich laut Beyli oft schon während der Beziehung ab: «Bei 25 bis 30 Prozent der Stalking-Fälle ist es schon in der Beziehung zu häuslicher Gewalt gekommen. Auch Kontrollverhalten wie das Handy der anderen Person zu checken, unbegründete Eifersucht oder auch Besitzansprüche im Sinne von ‹du gehörst nur zu mir›, können auf mögliches Stalking nach einer Trennung deuten.»
Das Verhaltensmuster während der Beziehung zieht sich nach der Trennung einfach weiter.
Ein Restrisiko bleibt immer
Ob Luiz dank der Gefährderansprachen sein Leben ab jetzt in den Griff bekommt, kann niemand garantieren. Wälchli spricht freundlich, aber bestimmt und hört sehr genau zu, wenn Luiz spricht. Luiz wünscht sich die Wiederaufnahme der Psychotherapie und möchte weiterhin die beruhigenden Medikamente nehmen. Auch Medikamente helfen ihm, ruhig zu bleiben. Mit Boxen und Fitness baut er Stress ab.
Die ersten paar Tage in Freiheit sind aus Luiz’ Sicht gut gelaufen. Er hat seine Familie besucht, das Fitness wieder aufgenommen und eine Schnupperlehre angefangen.
Auf Wälchlis Frage, ob er befürchtet, dass es wieder eskalieren und zu Gewalt kommen könnte, meint Luiz: «Ich bin reifer geworden und weil ich ja auch ein paar Mal in Haft gewesen bin, ist das meine letzte Chance und die will ich packen.»
Tech against Violence
Eine geregelte Arbeit, ein verändertes Umfeld, ein neuer Wohnort und eine neue Beziehung. All das sind Faktoren, die Luiz vor einer erneuten Gewalttat schützen können. Die neue Freundin ist also Schutzfaktor und gefährdete Person zugleich. Wälchli hat auch bereits mit der neuen Freundin sprechen können und hatte einen guten Eindruck von ihr.
Oliver Wälchli ist zufrieden mit dem Gespräch. Luiz scheint motiviert und guten Mutes. Aber Wälchli weiss: «Ein Restrisiko bleibt immer. Wir haben es immer noch mit Menschen zu tun. Wichtig ist, dass wir weiterhin dranbleiben und auf Veränderungen im Verhalten achten. Und mit dem gesamten Helfernetz versuchen, eine Eskalation zu verhindern.»
Oliver Wälchli begleitet Luiz die Treppe hinunter zum Eingangsbereich, wo seine Freundin wartet. Wälchli verabschiedet beide sehr freundlich und schaut ihnen nach, wie sie zusammen das Gebäude verlassen und ins Auto steigen.