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Das Jerusalem-Syndrom: Wenn Touristen sich für Jesus halten
Aus Ratgeber vom 10.04.2023. Bild: colourbox
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Religiöse Psychose Das Jerusalem-Syndrom: Wenn Touristen sich für Jesus halten

Speziell zur Osterzeit glauben Touristinnen und Touristen in Jerusalem, sie seien Heilige oder eine biblische Figur. Die «Heilige Stadt» wird zum Trigger für eine vorübergehende psychische Störung.

Immer wieder werden Menschen von der heiligen Aura Jerusalems in eine tiefgreifende religiöse Erregung versetzt: So glaubte ein kanadischer Tourist fest, er sei «Samson der Starke» aus dem Buch Richter und müsse einen Stein aus der Klagemauer versetzen.

Einem Lehrer aus Kopenhagen erschien just auf der Kuppel des Felsendoms die Mutter Gottes. Er traktierte den Wärter des Doms mit den Fäusten, weil dieser sich weigerte, die Heilige Jungfrau gebührend zu empfangen.

Eine Argentinierin tanzte nackt auf den Mauern der Jerusalemer Altstadt. Ihrer Aussage nach wollte sie so den verdorrten Boden Israels befruchten. Drei Beispiele neueren Datums. Aber schon die Kreuzfahrer berichteten von einer geradezu entrückten Überwältigung der Gefühle, als sie nach langer Reise in Jerusalem ankamen.

Diagnose «Jerusalem-Syndrom»

Jahr für Jahr müssen mindestens hundert Reisende in die Akutaufnahme der psychiatrischen Klinik im Westen Jerusalems eingewiesen werden. Die Diagnose: «Jerusalem-Syndrom». Viele von ihnen sind zuvor verstört durch die Strassen und Gassen Jerusalems geirrt. Einige predigten vor sich hin, rezitierten Psalmen oder Bibelverse.

Männer glauben oft Jesus, Moses, Johannes der Täufer oder Gott höchstpersönlich zu sein. Frauen identifizieren sich häufig mit Maria-Magdalena. Einige meinen, die Ehefrau von Jesus zu sein, und warten auf ihren Mann. Betroffen sind vorwiegend weisse Menschen christlichen oder jüdischen Glaubens. Erstere wählen eher eine Figur aus dem Neuen Testament, Jüdinnen und Juden bedienen sich beim Alten Testament.

Die Diagnose Jerusalem-Syndrom wird in drei Typen unterteilt. Reisende, die sich schon in ihrer Heimat mit einer religiösen Idee beschäftigt haben und nun eine Mission erfüllen wollen. Touristen, ohne eindeutige psychische Erkrankung, die aber unter einer psychischen Störung leiden. Der dritte Typus hat keine psychischen Vorerkrankungen oder religiöse Ideen, sie werden spontan Opfer einer psychotischen Episode. Ebenso spontan erholen sie sich nach ein paar Tagen, spätestens nach der Abreise.

Nicht nur in Jerusalem

Im British Journal of Psychiatry beschreiben die Autorinnen in einer Analyse – basierend auf klinischen Erfahrungen – das Jerusalem-Syndrom als einzigartigen, akut psychotischen Zustand.

Ursache ist offenbar die Nähe zu den heiligen Stätten Jerusalems und eine tiefgreifende religiöse Erfahrung. Auch die Änderung der täglichen Routine auf der Reise oder der kulturelle Unterschied zum Heimatland können zum Jerusalem-Syndrom beitragen.

Allerdings können auch andere geschichtsträchtige Stätten Reisende aus dem psychischen Gleichgewicht bringen. Sigmund Freud zum Beispiel berichtete, beim Besuch der Akropolis in Athen ein Gefühl der Derealisation erlebt zu haben.

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Archiv: Paris Syndrom
aus 100 Sekunden Wissen vom 19.05.2022. Bild: Imago Images / agefotostock
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Die Gefühle, die Sigmund Freud in Athen übermannten, sind auch als Florenz-/Stendhal-Syndrom bekannt. Der französische Autor Stendhal hat als erster die Auswirkungen und Ursachen beschrieben: Überwältigt von der kulturellen Vielfalt in Florenz, den Gräbern von Machiavelli, Galileo Galilei oder Michelangelo, wurde er kurzatmig und sein Puls erhöhte sich.

Auch hier: Eine zeitweilige psychosomatische Störung durch ein zu viel an kulturellen Reizen. Heute erkranken hin und wieder amerikanische Touristen dran.

Ratgeber, 10.04.2023, 11:10 Uhr

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