«Ich denke jeden Tag an Yuri und ich vermisse ihn. Auch noch ein Jahr nach seinem Tod», sagt Olivia und schaut auf die Geburtsanzeige auf der Kommode. Sie ist gleichzeitig auch Todesanzeige. Ihr Enkel wurde nur 17 Tage alt.
Olivias Geschichte als sogenannte verwaiste Grossmutter beginnt gut drei Monate vor dem Tod ihres Enkels. Damals erfuhr ihre Tochter im achten Schwangerschaftsmonat, dass ihr ungeborener Sohn einen schweren Gendefekt hat und nie ein Leben mit einer guten Lebensqualität führen wird.
Den Schmerz gemeinsam aushalten
Mit dieser Diagnose, erzählt die Grossmutter Olivia, mit dem Schmerz ihrer Tochter Rebecca und ihrem Schwiegersohn Daniel, begann auch die eigene Trauerzeit. Aber Olivia stellte ihren Schmerz hintenan und begann zu handeln: Sie organisierte den werdenden Eltern psychologische Hilfe, informierte sich über Handlungsoptionen und war vor allem bedingungslos da – hörte ihnen zu und hielt den Schmerz mit ihnen aus.
Sie traf ihre Freunde nicht mehr, vernachlässigte den Garten und verlängerte das Fitness-Abo nicht mehr. «Plötzlich realisierte ich: Ich habe mein Leben verloren.»
Palliative Betreuung
Die Eltern entschieden sich gegen einen Schwangerschaftsabbruch und für eine palliative Betreuung. Zwei Tage nach der Geburt konnte die Familie das Spital verlassen und sich dank der Kinderspitex zu Hause einrichten.
Mein oberstes Ziel war, dass Rebecca und Daniel so viel Zeit mit Yuri hatten wie nur möglich.
Niemand wusste, wie lange Yuri leben würde. Da seine Speiseröhre nicht mit dem Magen verbunden war, sondern im Nichts landete, konnte er keine Nahrung zu sich nehmen.
«Aktiv sein hat mir geholfen»
«Mein oberstes Ziel war, dass Rebecca und Daniel so viel Zeit mit Yuri hatten wie nur möglich», erzählt Olivia. Sie kaufte für sie ein, kochte, putzte. Unermüdlich. Und hielt den jungen Eltern damit den Rücken frei.
17 Tage nach seiner Geburt starb Yuri in den Armen seiner Eltern und ohne Schmerzen. Nach dem Tod ihres Enkels zog Olivia sich zurück. Sie wollte, dass Rebecca und Daniel ihren eigenen Weg finden können, mit der Trauer umzugehen.
Das grosse Loch
Wie die Eltern fiel auch die Grossmutter nach dem Tod von Yuri in ein Loch. Nach drei psychisch und körperlich anstrengenden Monaten hatte sie plötzlich nichts mehr zu tun: «Niemand hat mich mehr angerufen, ich wurde nicht mehr eingeladen. Ich war wirklich sehr allein».
Viele Leute in ihrem Umfeld vergassen, dass auch sie trauerte. Manche schmälerten ihre Trauer: «Ich habe mehrfach gehört: Das ist ja nicht so schlimm, es ist ja nicht dein Kind.» Zwar weiss Olivia, dass solche Aussagen nur die Hilflosigkeit dieser Leute zeigen. Trotzdem: «Das waren keine Stützen».
Der Wendepunkt
Ein halbes Jahr nach Yuris Tod zog sich Olivia, wie sie selbst sagt, an den eigenen Haaren aus dem Sumpf. Sie suchte sich eine Psychologin und merkte: «Ich brauche Gleichgesinnte. Ich wollte mich nicht immer wieder von Neuem erklären».
Doch Hilfsangebote für verwaiste Grosseltern sind rar. Deshalb wurde Olivia selbst aktiv. Durch ihre Tochter und ihre Psychologin lernte sie andere verwaiste Grossmütter kennen und mit allen machte sie dieselbe Erfahrung: «Innerhalb von Minuten hatten wir ein Verhältnis, als wären wir seit Jahren Freundinnen.»
Das Leiden sei sehr ähnlich, die Einsamkeit ebenfalls. Nun möchte sie selbst ein Hilfsangebot für verwaiste Grosseltern schaffen. Damit andere Grosseltern diese Einsamkeit nicht ertragen müssen.