Ich weiss nicht, ob ich mich freuen oder verfluchen soll: vor mir liegt das erste Parkour-Training meines Lebens. Das bedeutet zwei Stunden Bewegung im freien Gelände in Münsingen, heute bei unwirschen zwei Grad Aussentemperatur.
Die Stadt als Spielplatz
Herzlich werde ich von der bunt gemischten Truppe empfangen: Von der Primarschülerin über Teenager bis zur Seniorin trainieren hier alle mit – das macht Mut. Meine Coaches, Roger Widmer und Ramon Siegenthaler haben Parkour in die Schweiz geholt und hier gross gemacht. Seit über 20 Jahren verstehen sie durch den Sport das ganze Leben als Spielplatz. Deshalb trainieren wir auch sogleich draussen, ohne teures Equipment, aber mit allem, was da ist: unseren Körpern, der Treppe, der Betonmauer, einer Geländerstange.
Die wichtigste Regel: hör auf dich und sei ganz präsent.
Bereits beim intensiven Aufwärmen merke ich: Disziplin, Baby! Wer einen Fehler macht, muss auf den Handknöcheln Liegestütze machen – auf dem rauen Betonboden. Erst später werde ich bemerken, dass die direkte Berührung mit dem Boden und seiner Beschaffenheit meine Sinne dafür schärft, wie ich mich im Gelände bewege. Und auch, dass ich mich konzentrieren muss, wenn ich Parkour unbeschadet überstehen will. «Die wichtigste Regel: hör auf dich und sei ganz präsent», sagt der Coach.
Zwar erzählen mir kurz vor der ersten Übung einige von gebrochenen Beinen, doch Roger relativiert: «Wir liegen bei Nordic-Walking, was die Unfallrate anbelangt. Wir können an zwei Händen abzählen, wie viele Unfälle wir in den letzten 10 Jahren hatten.»
Springen, wo andere stoppen
Nun geht’s los: meine erste Übung. Ich soll auf der glitschig-kalten Metallstange balancieren – circa einen Meter über Boden. Was bei allen ganz einfach aussieht, ist für mich eine Herausforderung. Zum Glück ist da Isabelle, die Teilnehmerin über 60, die mich an der Hand hält und absichert. «Seit ich Parkour mache, habe ich eine viel bessere Balance. Ich schütze mich so vor Stürzen und bleibe fit», sagt sie.
Sogar das Hirn profitiert vom Training, lerne ich von den beiden Jüngsten an diesem Abend: «Nach dem Training ist unser Kopf leer, und der Stress der Schule ist vergessen.»
«Wer sich bewegt, lebt länger»
Tatsächlich gibt es unzählige Studien, die zeigen, wie wichtig Bewegung ist. Menschen, die mehr als drei Stunden sitzen am Tag, sind allfälliger für Krankheiten und haben gar eine geringere Lebenserwartung.
Nicht nur die «Fitness» ist ein Bonus, auch das Körpergefühl. Wenn man neue Bewegungen, neue Sportarten ausprobiert – wie ich mit Parkour – trainieren wir auch unser Hirn. In der Wissenschaft spricht man von «Propriozeption»: Unsere Körperwahrnehmung wird verbessert, wenn wir unseren Körper im Raum mit Balance und Konzentrationsübungen fordern.
Im Parkour-Training ist auch meine Konzentration gefragt: Ich springe der Gruppe über Betonmauern hinterher. Ungelenk, aber mit jedem Sprung etwas sicherer.
Zum Schluss folgt die Rolle mit dem Kopf über den Asphalt. Diese Aufnahmen des Kameramanns werde ich vermutlich ein Leben lang bereuen. Aber ein Tipp für alle, die es sehen und schmunzeln: selbst ausprobieren. Einmal Hechtrolle über den harten Boden. Und schon weiss man, wo die Komfortzone liegt.
Mit nach Hause nehme ich einen fetten Muskelkater, den Vorsatz zu mehr Bewegung (auch wenn vielleicht nicht so wild wie Parkour, bitte). Und das Mindset: man kann jedes Hindernis auch als Möglichkeit sehen.