Grau, wuchtig, kalt: Beton hat bei vielen keinen guten Ruf. Architektinnen und Bauingenieure lieben ihn trotzdem. So sehr, dass es kein Material auf der Welt gibt, das in grösserer Menge hergestellt wird.
Beton bietet unzähligen Menschen ein Zuhause, Beton überbrückt tiefe Täler, Beton staut Bergbäche, damit Strom produziert werden kann.
Beton – ein enormer Klimasünder
Doch die zehn Milliarden Tonnen, die jedes Jahr auf der Welt hergestellt werden, haben fürs Klima einschneidende Folgen: Wenn der wichtigste Bestandteil von Beton hergestellt wird, der Zement, entstehen grosse Mengen des Treibhausgases CO2.
Wäre Beton ein Staat, würde er in der Rangliste der grössten Klimasünder Rang drei erreichen, gleich hinter China und den USA.
Die Materialwissenschaftlerin Karen Scrivener von der ETH Lausanne (EPFL) verteidigt jedoch den Beton: «Seine CO2-Emissionen sind auch darum so hoch, weil er in gigantischen Mengen hergestellt wird.» Pro Tonne verursache die Produktion von Stahl, Glas oder Aluminium höhere CO2-Emissionen.
Eine neue Zement-Rezeptur
Beton lässt sich auch nicht einfach komplett ersetzen. Wollte man dies zum Beispiel mit Holz tun, müsste man Wälder auf einer Fläche von der sechsfachen Grösse Indiens pflanzen. Abgesehen davon, dass viele Bauwerke ohne Beton nicht zu errichten sind.
Darum sagt Karen Scrivener: «Beton ist optimal, um der Menschheit ein Obdach zu bieten, aber wir können ihn stark verbessern.» Und daran arbeitet die EPFL-Professorin seit Jahren. Mit einem internationalen Team tüftelte sie an einer Zement-Rezeptur mit einem drastisch verringerten CO2-Fussabdruck.
Wie entsteht das CO2?
Wie dieser Fussabdruck entsteht, lässt sich am besten beim Besuch eines Zementwerks verstehen. Zum Beispiel bei Jura Materials im aargauischen Wildegg. Dominik Wlodarczak, Leiter der Unternehmensentwicklung, führt zum Herzstück, dem gigantischen Brennofen: Eine rund 50 Meter lange Röhre, die sich langsam um ihre Achse dreht.
Im Innern wird gemahlener Kalk bei etwa 1450 Grad zum so genannten Klinker gebrannt, dem Hauptbestandteil von Zement. Die Hitze im Ofen ist auch in 50 Metern Entfernung zu spüren.
Wlodarczak steigt mehrere Treppen hoch, zum einen Ende der Röhre. Hier wird durch Düsen der Brennstoff injiziert: vom Plastikabfall über Tiermehl bis zu Kohle, alles zu Partikeln zerkleinert.
Zementhersteller wie Jura haben bereits einiges getan, um die Ökobilanz zu verbessern. Sie verwenden seit längerem alte Pneus und andere Abfälle, um ihre Öfen zu befeuern, statt Öl oder Kohle wie früher.
Trotzdem entstehen im Innern des Röhrenofens noch immer grosse Mengen CO2 – pro Stunde 60 Tonnen. Es stammt vom verbrannten Heizmaterial, wird aber auch gebildet, weil sich der erhitzte Kalk chemisch umwandelt.
Null Emissionen bis 2050
Der schweizerische und der globale Verband der Zement- und Betonbranche haben sich zu den Zielen des Pariser Klimaabkommens bekannt. Das heisst, dass die CO2-Emissionen von Zement bis 2050 auf null sinken müssen. «Dazu braucht es viele verschiedene Ansätze – eine Methode allein wird nicht genügen», sagt Dominik Wlodarczak.
Die Industrie setzt vor allem darauf, das CO2 aus dem Röhrenofen direkt im Kamin abzufangen und dann im Untergrund zu entsorgen. Technisch ist das bereits möglich, hat aber gewichtige Nachteile: Die Methode ist teuer und die Kosten der Zementproduktion könnten sich verdoppeln.
Wohin mit dem CO2?
Und man muss einen Ort finden, um das CO2 sicher zu lagern. «In der Schweiz gibt es kein geeignetes Gestein», sagt Dominik Wlodarczak.
Die sechs Schweizer Zementwerke werden das Treibhausgas deshalb bis zur Nordsee transportieren müssen, wo Norwegen Europas CO2-Abfall in ehemaligen Ölfeldern im Meeresboden endlagern will. Das würde jährlich 80'000 Lastwagenfahrten erfordern. Alternativ wird über eine CO2-Pipeline Schweiz-Nordsee diskutiert.
Es lohnt sich also, wenn man Möglichkeiten findet, um bei der Produktion des Zements gar nicht erst so viel CO2 entstehen zu lassen. Das ist im Prinzip einfach, sagt die Betonforscherin Karen Scrivener von der EPFL: «Wir müssen nur den Anteil von Klinker, also dem gebrannten Kalk, im Zement reduzieren.»
Weniger CO2 schon bei der Herstellung
Das Prinzip mag einfach sein, in der Praxis aber brauchte es einige Jahre akribische Forschung, um die Rezeptur zu entwickeln: eine Kombination aus gebranntem Ton und gemahlenem Kalk. LC3 nennen die Forschenden dieses Produkt.
Es reduziert den CO2-Ausstoss gleich an zwei Stellen im Herstellungsprozess: Erstens, weil der Ton nur auf 800 Grad statt 1400 erhitzt werden muss. Und zweitens, weil er – anders als gebrannter Kalk – dabei kein CO2 abgibt. Der gemahlene Kalk im LC-Rezept ist ungebrannt und so trägt er kein CO2 zur Bilanz bei.
Unter dem Strich verursacht Beton aus LC3-Zement etwa 30 Prozent weniger CO2. Ein enormes Potenzial, sagt Scrivener. Geeigneten Ton gebe es mehr als genügend. «Insgesamt könnte der CO2-Ausstoss der globalen Betonproduktion pro Jahr um 400 Millionen Tonnen gesenkt werden. Das sind in etwa die Emissionen von ganz Australien.»
Ist der neue Beton so gut wie der alte?
Die Formel für den Öko-Zement war also gefunden. Aber konnte damit auch hochwertiger Beton produziert werden?
Die Forscherinnen und Forscher um Scrivener testeten ihren Beton auf Herz und Nieren. Er hat nur eine Chance, wenn er genau so viel Gewicht tragen kann und wenn er nicht schneller verwittert als herkömmlicher Beton. Kurz: Er muss ihm in seinen Eigenschaften mindestens ebenbürtig sind.
Und auch der Preis muss stimmen. Zwar müsse ein Zementwerk seine Anlagen anpassen, um neben Kalk auch Ton brennen zu können, sagt Scrivener. Aber die umgebauten Werke könnten nachher auch mehr Zement produzieren, und so blieben die Herstellungskosten gleich oder lägen sogar leicht tiefer.
Betreiber auf der ganzen Welt überzeugen
Aber selbst als all diese Resultate auf dem Tisch lagen, war das Team noch nicht am Ziel, sagt Karen Scrivener: «Es gibt etwa 2000 Zementwerke auf der Welt. Wir müssen all ihre Betreiber davon überzeugen, LC3 einzusetzen».
Eine Herkulesaufgabe, denn die Branche verändert ihre Prozesse nur zögerlich: Jede Änderung bedeutet Aufwand und erst einmal Kosten. Gleichzeitig müssen die Behörden jedes Landes die Baustandards anpassen. Dafür braucht es offizielle Tests, die irgendjemand bezahlen muss.
Wenn Indien mitmacht, ist viel gewonnen
Karen Scrivener baute ein internationales Team auf, um dieses Problem anzupacken. «Wir haben uns anfangs auf Indien konzentriert», sagt sie, denn dort sei der Bedarf an Beton gross und er werde noch weiter steigen: Steigt Indien auf LC3 um, ist das CO2-Reduktionspotential enorm.
Wie gross die Unterschiede im weltweiten Betonverbrauch sind, zeigt ein Vergleich der USA und China, das in den letzten 20 Jahren am meisten Beton verbaut hat: Die USA verbrauchte im gesamten 20. Jahrhundert 4.4 Milliarden Tonnen Zement. In China waren es allein in den Jahren 2011 bis 2013 ganze 6.4 Milliarden Tonnen.
Erste Gebäude aus neuem Zement
Nun aber hat der Bedarf in China seinen Zenit überschritten, bald wird Indien an der Spitze liegen. «Dort müssen wir LC3 etablieren, bevor alles gebaut ist», sagt Karen Scrivener.
Die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) finanzierte die Zusammenarbeit der Lausanner Forschenden mit indischen Instituten. Im Verlauf des Projekts stellten indische Zementwerke LC3 her, womit ein Haus für die Schweizer Botschaft in Neu-Delhi und ein weiteres in der Stadt Jhansi gebaut wurden.
Veränderte Stimmung in der Branche
Die Strategie scheint erfolgreich zu sein. In Indien stehen einige Hersteller davor, LC3-Zemente auf den Markt zu bringen – und auch global könnte der Durchbruch bevorstehen.
Der Generaldirektor des weltweiten Verbands der Zement- und Betonhersteller, Thomas Guillot, sagt: «Fast alle unsere Mitglieder haben LC3-Produkte angekündigt, darunter auch der Holcim-Konzern.» Die schweizerische Holcim, die Weltmarktführerin, bestätigt dies auf Anfrage von SRF. Und auch Jura Materials arbeite daran, solche Produkte auf den Markt zu bringen, sagt Dominik Wlodarczak.
Für Karen Scrivener ist das eine Genugtuung. Die Stimmung in der Branche habe sich stark verändert, die anfängliche Skepsis sei gewichen. «Der Druck auf die Industrie, ihren CO2-Ausstoss zu senken, ist in den letzten Jahren stark gewachsen – und wir kamen mit LC3 zur rechten Zeit.»
LC3 alleine reicht nicht aus
Doch die 30-prozentige CO2-Reduktion, die die Lausanner Entwicklung bringt, genügt allein nicht. Bauen muss noch umweltfreundlicher werden, damit die Klimaerwärmung gebremst werden kann.
Ansätze gibt es viele. Expertinnen und Experten sagen zum Beispiel, heutzutage werde in vielen Bauwerken zu viel Beton verwendet. Genauere Berechnung und Planung erlaube oft eine Reduktion, ohne dass die Stabilität des Gebäudes leide. Auch beim Recycling von Beton liegt noch mehr drin.
Und es gibt weitere Möglichkeiten: Auch wenn man nicht auf Beton verzichten kann – gerade in der Schweiz liesse sich noch mehr mit dem klimafreundlichen Holz bauen als bisher. Bisher wird nicht das gesamte Holz genutzt, das die hiesigen Wälder hergeben können.
Es wird also noch an vielen Stellen grosse Anstrengungen brauchen. Aber schon jetzt ist klar: Das Lausanner Team um Karen Scrivener hat mit seiner Entwicklung einen wichtigen Beitrag geleistet. Was einst im Kleinen im Labor für Baumaterialen der EPFL begann, könnte bald grosse Auswirkungen fürs Klima haben.