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Bergsturz Brienz (GR): Neues Unheil nach dem grossen Glück?
Aus Einstein vom 16.05.2024.
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Keine Ruhe im Fels Bergsturz in Brienz: Droht neues Unheil nach dem grossen Glück?

Beim Bergsturz im Sommer 2023 hatte das Bündner Bergdorf Brienz unglaubliches Glück. Doch ist es damit schon wieder vorbei? Das Dorf rutscht so schnell wie nie. Im schlimmsten Fall drohen neue Felsstürze – sogar auf einen Nachbarort.

Wie ein Bergsteiger steht Daniel Figi am Dorfrand von Brienz: Bergschuhe, Steinschlaghelm, Rucksack. Und tatsächlich ist er bereit für eine «Erstbesteigung». Nicht einer Nordwand, sondern der neu geformten Südwand ob Brienz.

Er will auf den Rutschkegel, den der Bergsturz hinterlassen hat. Ein gewaltiger Steinhaufen. Nicht so steil wie die klassischen Wände in den Alpen. Aber unterdessen annähernd so berühmt.

Doch Figi locken nicht die Lorbeeren einer Erstbesteigung. Der Geologe muss wissen, was die Zukunft für Brienz bereithält. Denn diese Zukunft sieht im Moment nicht sehr rosig aus.

Rutscht das Dorf, bröckelt der Berg

Die «Erstbesteigung» machte Figi kurz nach dem Bergsturz vom 15. Juni 2023, mittlerweile war er mehrmals dort. Denn heute ist klar: Der Berg kommt nicht zur Ruhe. Im Gegenteil. Er rutscht teilweise schneller denn je. Genauso wie das Dorf Brienz an seinem Fuss.

Das ist kein Zufall, sondern geologischer Zusammenhang. Rutscht unten das Dorf weg, verliert auch der Berg darüber zusehends den Halt. Die Geologen sprechen von einer Grossrutschung. Und die wurde beschleunigt durch einen überdurchschnittlich nassen Herbst und Winter.

Rutschkegel als Steinschlagschutz

Was heisst das nun für Brienz? Das Dorf ist bereits durch die rekordhohe Rutschgeschwindigkeit von zwei Metern pro Jahr gebeutelt. Die Infrastruktur leidet und die Bauern können Teile ihres Landes nicht mehr bewirtschaften.

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Daniel Figi: «Wir stellen uns vor, dass die grossen Dolomitblöcke von der Masse aufgehalten worden sind»
Aus Einstein vom 16.05.2024.
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«Aktuell sehen wir keine unmittelbare Bedrohung durch neue Felsstürze», sagt Figi. Immer wieder lösen sich am Berg zwar Felsbrocken und stürzen ab. Einige so gross wie kleine Einfamilienhäuser.

Was im vergangenen Sommer abgestürzt ist, war nur ein Prozent des ganzen Volumens, das in Brienz in Bewegung ist.
Autor: Daniel Figi Geologe

Doch zwei glückliche Fügungen minimieren die Gefahr: Weil der Rutschkegel noch sehr weich ist, bremst das die darüber rollenden Steine. Und mit seiner Form lenkt sie der Kegel weg vom Dorf. Das gilt aber nur für die nähere Zukunft, in der die Felsbrocken eine gewisse Grösse nicht überschreiten dürften.

Ein neuerlicher Bergsturz in zehn Jahren?

Denn insbesondere in der Felspartie «Front» oberhalb der Ausbruchsstelle des Bergsturzes und im sogenannten «Plateau» über dieser «Front» bewegen sich grosse Massen mit hoher Geschwindigkeit. Mit fast sechs Meter pro Jahr.

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Daniel Figi: «Wenn sich die Bewegung weiter beschleunigt, kann man weitere Ereignisse längerfristig nicht ausschliessen»
Aus Einstein vom 16.05.2024.
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Figi ordnet ein: «Was im vergangenen Sommer abgestürzt ist, war nur ein Prozent des ganzen Volumens, das in Brienz in Bewegung ist.» Stoppe die Beschleunigung der Grossrutschung nicht, sei ein weiteres Ereignis wie der Bergsturz nicht auszuschliessen in den kommenden fünf bis zehn Jahren. Denn: Je schneller der Berg rutscht, umso schneller können sich die Prozesse innerhalb dieser Rutschung verändern. «Weiter als auf fünf Jahre hinaus können wir nicht prognostizieren.»

Überwacht von Drohne und Satelliten

Auch am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos beschäftigen sich Forschende mit dem Brienzer Bergsturz und seiner Zukunft. Seit Jahren vermessen sie das Gebiet um Brienz mit einer wissenschaftlichen Drohne.

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Eindrückliche Bilder vom Bergsturz
Aus Einstein vom 16.05.2024.
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Nun können sie dafür auch auf hochauflösenden Satelliten-Radardaten zurückgreifen. Selbst bei Nebel liefern die Satelliten täglich mehrfach Vermessungsdaten. Der Geograf Yves Bühler arbeitet eng mit dem Geologenteam um Daniel Figi zusammen. Seine Auswertungen der Daten aus Brienz zeigen ihm zwei gefährliche Zonen.

Der instabile Haifischzahn

Da ist einerseits ein spitz aufragender Felsbrocken von zehn Meter Höhe: der sogenannte Haifischzahn. Er ist Teil der «Front». Bühler sagt: «Der macht uns Sorgen. Wenn er abstürzt, könnten die Felsblöcke das Dorf erreichen.»

Daniel Figi meint hingegen, dass der Haifischzahn in derart viele kleinere Felsstücke zerfallen wird, dass diese wie alle bislang abgestürzten Felsblöcke vom Rutschkegel gebremst und abgelenkt werden. Ohne dass sie das Dorf erreichen würden.

Steile Felswand mit Bäumen an der Spitze.
Legende: Der Haifischzahn – könnte er bei einem Absturz das Dorf Brienz treffen? Die Experten sind sich uneinig. SRF

Der Haifischzahn ist das extremste Beispiel. Es können aber auch andere Felsbereiche abbrechen und Richtung Brienz stürzen, wie schon oft seit dem Bergsturz.

Bislang blieb ein grosser Teil der Felsen in vom Bergsturz hinterlassenen Mulden liegen. Auf der letzten Begehung musste Daniel Figi allerdings feststellen: «Gewisse dieser natürlichen Auffangbecken sind unterdessen fast voll.»

Ein neu bedrohter Ort?

Der zweite Bereich, der in den Messungen des SLF hervorsticht, liegt versteckt hinter der Brienzer «Südwand». Die Geologen bezeichnen ihn als «Kompartiment West». Von Brienz her sieht man dieses nicht. Erst die Fahrt Richtung Westen durch den Ort Vazerol zeigt, wie auch auf dieser Seite der Berg zunehmend zerfällt. Yves Bühlers Einschätzung: «Ein Teil dieses Kompartiments würde wohl Richtung Vazerol abstürzen.»

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Yves Bühler: «Ein Teil des Kompartiment West würde mit hoher Wahrscheinlichkeit Richtung Vazerol abstürzen»
Aus Einstein vom 16.05.2024.
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Vazerol war ursprünglich gar als einer von mehreren Umsiedlungsstandorten vorgesehen, falls Brienz wegen der Rutschschäden im Dorf oder einer neuerlichen Bergsturzgefahr nicht mehr bewohnbar wäre.

Umsiedlung nicht vom Tisch

Der Gemeindepräsident von Albula – Vazerol und Brienz gehören zu dieser Grossgemeinde – weiss um diese unheilvolle Konstellation: «Bis im Herbst erarbeiten wir eine neue Planungszone. Wir werden dann sehen, ob die Umsiedlungszone Vazerol verkleinert oder aufgelöst werden muss.»

Chronologie eines Bergdramas

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Legende: SRF
  • 2000: Ab der Jahrtausendwende beginnt sich der lange nur langsam bewegende Rutsch zu beschleunigen. Vermutlich wegen starker Niederschläge.
  • Herbst 2018: Die Geologen beginnen mit der Untersuchung des Rutsches. Die erste von über einem Dutzend Bohrungen wird gemacht.
  • 3. Mai 2019: Die Gemeinde informiert die Brienzerinnen und Brienzer, dass in den kommenden Jahren eine Evakuierung möglich sein könnte.
  • 21. September 2021: Baustart des 600 Meter langen Sondierstollens, der zeigen soll, ob eine Entwässerung den Rutsch bremsen kann.
  • 3. Mai 2023: Die Gemeinde informiert, dass mit der sogenannten Insel ein Teil des Berges akut absturzgefährdet ist und die Einwohner sich auf eine Evakuierung vorbereiten sollen.
  • 12. Mai 2023: Die Evakuierung ist früher als erwartet notwendig, Brienz muss bis am Abend leer sein.
  • 15. Juni 2023: Die Insel stürzt kurz vor Mitternacht ab. So berichtete am Tag danach die Tagesschau über das Unglück in Brienz.
  • 4. Juli 2023: Die Einwohner dürfen zurück ins Dorf.
  • Mai 2024: Baustart des Entwässerungsstollens, der Verlängerung des Sondierstollens auf 2.5 Kilometer.

Natürlich hoffen alle, die Brienzerinnen und Brienzer, ihr Gemeindepräsident, aber auch die Geologen, dass die grosse Rettungsaktion von Brienz gelingt und nie eine Umsiedlung nötig sein wird. Doch der geplante Entwässerungsstollen wird erst 2026 fertig gebaut sein.

Verpuffter Bremseffekt

Der Stollen soll der «Rutschung Dorf» mindestens so viel Wasser entziehen, wie als Regen und Schnee in ihn hinein sickert. Figi sagt: «Wir haben gemessen, dass das mehrere Hundert Liter pro Stunde sind.» Denn: Schuld an der Grossrutschung ist ein zu hoher Wasserdruck im Berg, der sich insbesondere im zu nassen Herbst und Winter aufgebaut hat.

«Man kann sich den Wasserdruck vorstellen wie ein Luftkissen, auf dem Brienz schwimmt und darum rutscht. Lässt man Luft oder eben Wasser ab, setzt sich die Rutschung und stagniert im besten Fall», erklärt Figi.

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Achiv: So soll die Rutschung gestoppt werden
Aus Einstein vom 12.01.2023.
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Ein 2021 gebauter Sondierstollen von 600 Meter Länge hat schon im Jahr darauf gezeigt, dass das Konzept funktionieren kann. Sowohl die «Rutschung Dorf» als auch die «Rutschung Berg» haben sich damals verlangsamt. Doch die vergangenen nassen Monate haben den Effekt wieder zunichtegemacht.

Geht die Rechnung mit dem Entwässerungsstollen auf?

Daniel Figi bleibt optimistisch. Der Sondierstollen wird ab jetzt auf 2500 Meter verlängert. Der fertige Entwässerungsstollen soll dann zehnmal mehr Wasser aus dem Berg holen als der Sondierstollen.

Beim Sondierstollen waren es in vollem Betrieb gut hundert Liter pro Minute. Um die mehreren Hundert Liter aus dem Berg zu holen, die gemäss Messungen einsickern, sollte eine Verzehnfachung der Kapazität also reichen. Die Rechnung sollte aufgehen.

Dass die Grossrutschung Brienz manchmal auch unberechenbar ist, zeigte allerdings der Absturz im vergangenen Sommer. Der hat sich nur wenige Monate zuvor angekündigt.

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