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Tierische Intuition: Können Tiere uns vor Naturkatastrophen warnen?
Aus Einstein vom 10.10.2024.
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Verborgenes Wissen Revolutionäre Forschung zur Schwarmintelligenz der Tiere

Viele Tiere riechen, sehen und spüren besser als wir Menschen. Was wäre, wenn wir ihnen eine Stimme geben könnten?

Norditalien, Borgo Sant'Antonio, Oktober 2016: Tausenden Menschen wird der Boden unter den Füssen weggerissen – schlagartig und ohne Vorwarnung. Ein Erdbeben der Stärke 6.6 auf der Richterskala nimmt ihnen ihr Zuhause, manchen gar die Familie, das Leben.

Der Mensch weiss es, Wolkenkratzer zu bauen und künstliche Intelligenzen zu schaffen, und doch ist er seit jeher Naturgewalten wie dieser chancenlos ausgeliefert.

Tierische Intuition statt menschlicher Technik

Anders sieht diese Interaktion mit der Natur bei vielen nicht-menschlichen Tieren aus. Bereits Stunden vor den üblichen Warnungen seismologischer Expertinnen und Experten ändern sie ihr Verhalten. Wir wissen zwar nicht, wie die Tiere Erdbeben erspüren können, noch gab es wissenschaftliche Beweise dafür, dass es so ist – bis zu jenem Erdbeben in Italien.

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Wikelskis Forschung nach dem Erdbeben in Borgo Sant'Antonio
Aus Einstein vom 10.10.2024.
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Dort war nämlich auch der deutsche Verhaltensbiologe Martin Wikelski vor Ort. Vor dem Erdbeben hatte er im Erdbebengebiet verschiedene Tiere besendert – darunter Kühe, Ziegen oder Hunde. Wikelskis Datenlage ist klar: Durch das unruhige Verhalten der Tiere Stunden vor dem Beben hätte dieses vorausgesehen werden können.

Ein Internet der Tiere

Das Verhalten der Tiere als Kollektiv ist eine Form der natürlichen Intelligenz, die uns Auskunft über die Erde geben könnte, wie wir sie zuvor nie hatten.

Ein Mann mit rotem T-Shirt hält eine Fledermaus bei Nacht im Freien.
Legende: Martin Wikelski mit einem besenderten Flughund in Sambia. Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie/MaxCine

Durch die Sender von Martin Wikelski haben wir Zugang dazu. Denn Italien ist nicht der einzige Ort, an dem der Forscher und sein Team Tiere besendern. Es laufen Projekte überall auf der Welt und mit den unterschiedlichsten Tierarten, seien es Nashörner, Flughunde oder Bienen.

Alle besenderten Tiere in einer App

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Im App-Store lässt sich gratis eine App namens «Animal Tracker» herunterladen. Auf einer digitalen Karte kann man damit die Standorte der Tiere abrufen.

Laut der App befinden sich in der Schweiz aktuell 533 Tiere. Je nach deren Routen kann sich dies jederzeit ändern. Die Forscher des Max-Planck-Instituts teilen ihre Daten bewusst mit den Bürgern, denn letztere können eine Hilfe für das Projekt sein.

Während die Forscher zwar wissen, wo sich die Tiere befinden, wissen sie nicht, was diese dort tun. Fressen sie? Schlafen sie? Sind sie allein oder mit Artgenossen? Alle diese Daten können von Bedeutung sein. Hier sind Hobby-Tierbeobachter gefragt. Wird ein besendertes Tier gefunden, lassen sich davon Fotos und Beschreibungen in der App hochladen.

Sie alle werden vereint in einer Vision des sogenannten «Internets der Tiere». Das gleichnamige Buch von Martin Wikelski erschien im Mai 2024. Diese Vision bezeichnet eine riesige, in einer globalen Datenbank gespeicherte Sammlung aus Senderdaten von hunderttausenden Individuen und von über 1300 Arten.

Satellitenempfang aus dem All

«Project Icarus» nennt Wikelski das Grossprojekt, abgeleitet von der griechischen Sage, als auch der Abkürzung für «International Cooperation for Animals Using Space». Bis Frühjahr 2022 wurden die Daten der Tiere von einem Icarus-Empfänger an Bord der russischen Raumstation ISS gesammelt. Mit dem Start des Ukrainekriegs musste diese Zusammenarbeit jedoch abgebrochen werden. Seither setzt Icarus auf Mikrosatelliten des Münchner Start-ups OroraTech. Der Testflug fand im Sommer 2023 statt.

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Wikelskis Vision des Internets der Tiere
Aus Einstein vom 10.10.2024.
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Der Start des ersten Mikrosatelliten von OroraTech mit einem Icarus-Empfänger an Bord ist für Oktober 2024 geplant. Je zwei weitere sollen 2025 und 2026 folgen. Mit jedem zusätzlichen Satelliten kommen die Forscher ihrem Ziel, einer Echtzeitverfolgung der Tiere, näher. Ein Icarus-Empfänger im All wird die Daten jedes besenderten Tieres einmal am Tag auslesen.

Unberührtes Wissen über unsere Erde

Die gesammelten Daten sollen eine Art Schwarmintelligenz darstellen, die weit über die Fähigkeiten des Menschen hinausreicht. Denn nicht nur Erdbeben soll die bislang verborgene Wahrnehmung der Tiere vorhersagen können, sondern alle Arten von Naturgewalten, von Vulkanausbrüchen und Stürmen über den Klimawandel hin zu simplen Wettervorhersagen. So ist auch bereits der Deutsche Wetterdienst an Wikelskis Datenbank interessiert. Allem voran könnten wir durch dieses System die Natur und die nicht-menschliche Tierwelt besser schätzen und schützen lernen.

Verbesserter Tierschutz durch die Sender

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Der Krüger Nationalpark in Südafrika ist einer der Orte, an denen die Sender den Schutz der Tiere verstärken. Im Park sind Nashorn-Wilderer auf der Jagd nach Elfenbein ein Problem.

Während die Wilderer bislang erst durch ihre Gewehrschüsse bemerkt werden konnten, geht das durch Wikelskis Sender nun schneller.

Neben den Nashörnern selbst besendert Wikelski im Park verschiedenste Fluchttiere wie Zebras, Giraffen und Impalas. Sie verhalten sich nämlich unterschiedlich, wenn ein Fressfeind, wie ein Löwe oder ein Wilderer kommt. Sobald mehrere der besenderten Tiere in der Umgebung eines Nashorns unruhig werden, wird bei den Rangern des Parks ein Alarm ausgelöst. Das könnte ein Wilderer sein.

SRF 1, Einstein, 10.10.2024, 21:05 Uhr

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