Norditalien, Borgo Sant'Antonio, Oktober 2016: Tausenden Menschen wird der Boden unter den Füssen weggerissen – schlagartig und ohne Vorwarnung. Ein Erdbeben der Stärke 6.6 auf der Richterskala nimmt ihnen ihr Zuhause, manchen gar die Familie, das Leben.
Der Mensch weiss es, Wolkenkratzer zu bauen und künstliche Intelligenzen zu schaffen, und doch ist er seit jeher Naturgewalten wie dieser chancenlos ausgeliefert.
Tierische Intuition statt menschlicher Technik
Anders sieht diese Interaktion mit der Natur bei vielen nicht-menschlichen Tieren aus. Bereits Stunden vor den üblichen Warnungen seismologischer Expertinnen und Experten ändern sie ihr Verhalten. Wir wissen zwar nicht, wie die Tiere Erdbeben erspüren können, noch gab es wissenschaftliche Beweise dafür, dass es so ist – bis zu jenem Erdbeben in Italien.
Dort war nämlich auch der deutsche Verhaltensbiologe Martin Wikelski vor Ort. Vor dem Erdbeben hatte er im Erdbebengebiet verschiedene Tiere besendert – darunter Kühe, Ziegen oder Hunde. Wikelskis Datenlage ist klar: Durch das unruhige Verhalten der Tiere Stunden vor dem Beben hätte dieses vorausgesehen werden können.
Ein Internet der Tiere
Das Verhalten der Tiere als Kollektiv ist eine Form der natürlichen Intelligenz, die uns Auskunft über die Erde geben könnte, wie wir sie zuvor nie hatten.
Durch die Sender von Martin Wikelski haben wir Zugang dazu. Denn Italien ist nicht der einzige Ort, an dem der Forscher und sein Team Tiere besendern. Es laufen Projekte überall auf der Welt und mit den unterschiedlichsten Tierarten, seien es Nashörner, Flughunde oder Bienen.
Sie alle werden vereint in einer Vision des sogenannten «Internets der Tiere». Das gleichnamige Buch von Martin Wikelski erschien im Mai 2024. Diese Vision bezeichnet eine riesige, in einer globalen Datenbank gespeicherte Sammlung aus Senderdaten von hunderttausenden Individuen und von über 1300 Arten.
Satellitenempfang aus dem All
« Project Icarus » nennt Wikelski das Grossprojekt, abgeleitet von der griechischen Sage, als auch der Abkürzung für «International Cooperation for Animals Using Space». Bis Frühjahr 2022 wurden die Daten der Tiere von einem Icarus-Empfänger an Bord der russischen Raumstation ISS gesammelt. Mit dem Start des Ukrainekriegs musste diese Zusammenarbeit jedoch abgebrochen werden. Seither setzt Icarus auf Mikrosatelliten des Münchner Start-ups OroraTech. Der Testflug fand im Sommer 2023 statt.
Der Start des ersten Mikrosatelliten von OroraTech mit einem Icarus-Empfänger an Bord ist für Oktober 2024 geplant. Je zwei weitere sollen 2025 und 2026 folgen. Mit jedem zusätzlichen Satelliten kommen die Forscher ihrem Ziel, einer Echtzeitverfolgung der Tiere, näher. Ein Icarus-Empfänger im All wird die Daten jedes besenderten Tieres einmal am Tag auslesen.
Unberührtes Wissen über unsere Erde
Die gesammelten Daten sollen eine Art Schwarmintelligenz darstellen, die weit über die Fähigkeiten des Menschen hinausreicht. Denn nicht nur Erdbeben soll die bislang verborgene Wahrnehmung der Tiere vorhersagen können, sondern alle Arten von Naturgewalten, von Vulkanausbrüchen und Stürmen über den Klimawandel hin zu simplen Wettervorhersagen. So ist auch bereits der Deutsche Wetterdienst an Wikelskis Datenbank interessiert. Allem voran könnten wir durch dieses System die Natur und die nicht-menschliche Tierwelt besser schätzen und schützen lernen.