In der Schweiz gibt es zwei Traditionen, Wilhelm Tell aufzuführen. Seit über 100 Jahren zeigt Interlaken das Schiller-Drama auf einer Freilichtbühne mit echten Tieren, authentischen Kulissen und Kostümen.
Aufgrund massiv sinkender Zuschauerzahlen setzen die Interlakener Tellspiele dieses Jahr aber auf Robin Hood. Statt der Armbrust werden Pfeil und Bogen gespannt.
Bereits seit 1899 wird das Tell-Drama alle vier Jahre von der Tellspielgesellschaft Altdorf auf die Bühne gebracht, im eigens dafür erbauten Tellspielhaus. Auch da wird Schiller von einem Laienensemble gespielt, aber in einer modernen, zeitgenössischen Adaption.
Anders als die Tellspiele in Interlaken leidet Altdorf nicht an Publikumsschwund. Der Vorverkauf laufe gut, sagt Barbara Bär, Präsidentin der Tellspielgesellschaft. «Dadurch, dass wir immer eine andere Regie haben und man einen historischen Stoff erleben kann, aber aus dem Zeitgeist heraus gedacht, ist es immer wieder spannend und neu.»
Acht Jahre «Tellpause»
Nach acht Jahren ohne Inszenierung – wegen Corona – bringt die Tellspielgesellschaft pünktlich zum 125-Jahr-Jubiläum wieder einen Tell auf die Bühne, diesmal in der Regie von Annette Windlin.
Windlin fokussiert auf die Frage: Ist Tell ein Held oder ein Mörder? Ist seine Tat am Tyrannen Gessler Verteidigung und gerechtfertigt oder Rache wegen des Apfelschusses? Wie weit geht Sich-Wehren und wann kippt Sich-Wehren in Rächen?
Unbekannte Figur im Fokus
Sie stellt dazu eine Figur ins Zentrum, die häufig weggelassen wird: Herzog Johann von Schwaben, genannt Parricida. Er hat seinen Onkel, Kaiser Albrecht I., aus Geldgier ermordet, weil dieser ihm das Erbe verwehrte. Während bei Schiller Parricida erst am Schluss auftritt, ist er bei Windlin ab der ersten Szene präsent. Im Laufe des Stücks taucht er immer wieder auf.
Damit wird Tells Handeln permanent infrage gestellt. Gibt es einen «falschen» und einen «richtigen» Mord? Am Ende begegnen sich Tell und Parricida. Doch Tell will nichts mit ihm zu tun haben. Er habe getötet, um seine Familie zu schützen und nicht wie Parricida aus egoistischen Gründen. Anders als in Schillers Vorlage bleibt Tells Frau Hedwig in dieser Szene auf der Bühne und stellt ihren Mann auch infrage.
Windlin setzt auf Weiblichkeit
Windlin stärkt in ihrer Inszenierung die Frauenfiguren. So treten Gertrud und Werner Stauffacher immer gemeinsam als Paar auf. Statt Walther Fürst und Arnold von Melchthal spielen Frau Fürst und die Melchthalerin.
Tell schiesst den Apfel vom Kopf seiner Tochter. Und beim Rütlischwur wird nicht nur zu den Vätern und Brüdern geschworen, sondern auch zu den Schwestern und Müttern. Tell ist in der Inszenierung kein in sich gekehrter, wortkarger Eigenbrötler, sondern ein Familienvater, der mit seiner Tochter rappend durchs Land zieht.
Mitreissend und schwungvoll
Die Inszenierung hat viel Schwung und Action. Es gibt eine Hochzeit mit Akrobatik-Nummern und durch die Rütli-Szene wirbeln lustige Strohgestalten.
Es wird aber auch geschändet, geblendet – und als die Eidgenossen die Burg stürmen, kommt es zum Schwertkampf. Die Musik sorgt dabei für viel Stimmung und untermalt, fast filmisch, die Szenen.
Windlin gelingt eine mitreissende Tell-Inszenierung, die mal düster und brutal, mal witzig und heiter daherkommt.