Für den Tessiner Filmemacher Niccolò Castelli sind die 58. Solothurner Filmtage eine Premiere. Dieses Jahr tritt er nicht als Regisseur, sondern als künstlerischer Leiter in Erscheinung.
Im Gespräch erzählt er, wie die Schweiz im internationalen Filmtreiben an Boden gewann, und warum die Filmtage politischer geworden sind.
SRF: Die ersten Solothurner Filmtage unter Ihrer künstlerischen Leitung beginnen mit dem Dokfilm «This Kind of Hope» über einen belarussischen Aktivisten. Wieso gerade dieser Film?
Niccolò Castelli: Es ist ein Film, der das Programm der diesjährigen Ausgabe gut zusammenfasst. «This Kind of Hope» zeigt, dass die Filmlandschaft Teil der Gesellschaft ist und legt den Finger in die Wunde.
Heute ist die Schweizer Filmlandschaft ein Teil der Welt.
Wir haben Schweizer Filme, die sich mit aktuellen Themen beschäftigen, unsere Sorgen aufgreifen und Fragen stellen. Es geht um Krieg, Veränderungen in der Umwelt oder Genderfragen. Fragen, die täglich diskutiert werden. Schweizer Filme wollen hinter die Kulissen unserer Gegenwart blicken.
Wird das Festival unter Ihrer Leitung politischer, öffnet es sich der Welt ein bisschen mehr?
Ich glaube nicht, dass dies etwas damit zu tun hat, dass ich die Filmtage nun leite. Früher haben Schweizer Regisseurinnen und Regisseure von der Insel Schweiz in die Welt hinausgeschaut. Heute ist die Schweizer Filmlandschaft ein Teil dieser Welt.
Es ist ein bisschen wie bei unserer Nati. Die meisten Regisseurinnen und Regisseure in ihren Dreissigern sind zwar in der Schweiz geboren, haben allerdings Wurzeln im Ausland: im Balkan, Russland, Italien oder Portugal. Die Welt gehört zur Schweiz und die Schweiz zur Welt.
Solothurn ist der beste Ort, um Brücken zwischen der Filmlandschaft, den Institutionen und dem Publikum zu bauen.
Und ich glaube, die Filmtage werden generell politischer – auf eine philosophische Weise. Wir sind aber nicht die 68er-Bewegung. Die neue Generation macht politische Kunst, wählt dafür aber einen neuen Weg. Sie versteht sich als Teil der Gesellschaft.
Vor zwei Jahren eröffnete Ihr Spielfilm «Atlas» die Solothurner Filmtage. Sind Regisseure als künstlerische Leiter von Filmfestivals besser geeignet?
Das weiss ich nicht. Für mich war es eine Ehre, die Solothurner Filmtage zu eröffnen. Ich komme aus dem Tessin, einer Randregion und Minderheit der Schweiz.
Jetzt ist es das Gleiche: Ich kann mit meiner minoritären Perspektive die Schweiz repräsentieren und deren ganze Filmlandschaft zeigen. Das ist eine Ehre für mich, aber auch eine grosse Verantwortung.
Als Regisseur war ich gerne hier. Solothurn ist der beste Ort, um Brücken zwischen der Filmlandschaft, den verschiedenen Institutionen und dem Publikum zu bauen.
Als Filmemacher verstehe ich, was es braucht, um einen Film zu drehen. So gesehen bin ich vielleicht etwas besser geeignet, dem Publikum darüber etwas zu erzählen.
2022 waren die Zuschauerzahlen rückläufig – nach zwei starken Jahren unmittelbar vor der Pandemie. Wie wollen Sie diesen Trend umkehren?
Auf die Zahlen schaue ich nicht so genau. Die Leute sollen die Kinosäle besuchen, weil dadurch ein Austausch von Emotionen und Gedanken stattfinden kann. Das ist das Wichtigste für unsere Kunst, unsere Gesellschaft und die Kultur.
Wenn ich früher einen bestimmten Film auf keinen Fall verpassen wollte, musste ich ein Festival besuchen. Heute kann ich davon ausgehen, dass ich ihn einige Wochen oder Monate später auf einer Streamingplattform finden werde.
Somit haben sich auch die Beweggründe, ein Festival zu besuchen, gewandelt. Ich gehe hin, um diesen Austausch mit anderen Leuten oder Filmschaffenden zu bekommen.
Das Gespräch führte Dino Pozzi.