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Von «Lion King» bis «Wicked» Musicals sind weit mehr als Massenware für den Mainstream

Hartnäckig hält sich das Klischee, Musicals seien seichte Unterhaltung. Dabei verpacken sie gesellschaftliche Themen wie soziale Ungerechtigkeit oder psychische Gesundheit auf zugängliche Art und Weise.

«Wicked» gilt als das Musicalphänomen des 21. Jahrhunderts. Nicht nur die Bühnenversion, auch die lang erwartete Filmadaption bricht alle Rekorde. Seit der Weltpremiere Mitte November hat der Film rund 525 Millionen Dollar eingespielt und ist damit nach «Mamma Mia!» schon jetzt die zweiterfolgreichste Musicalverfilmung aller Zeiten.

Musicalwelten sind Safe-Spaces

Die mitreissende Musik von Stephen Schwartz, spektakuläre Bühneneffekte und eine universelle Geschichte sind das Erfolgsrezept von «Wicked». Das Musical erzählt von zwei jungen und mutigen Hexen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Die hübsche Glinda ist bei allen beliebt, Elphaba wird wegen ihrer grünen Haut verspottet. Es geht um Freundschaft, Ausgrenzung und die Suche nach der eigenen Identität.

Frau in rosa Ballkleid mit Krone auf Balkon mit Dekoration.
Legende: Musicals sind für Randgruppen oft Safe-Spaces, da sie Themen wie Unterdrückung und Ungerechtigkeit zugänglich inszenieren. Universal Pictures International Switzerland

«Als ich das erste Mal ‹Wicked› gesehen habe, habe ich geheult», sagt Marik Roeder alias Mik alias «darkviktory». Der 35-Jährige ist Musicalfan und betreibt den grössten, deutschsprachigen Musical-Youtube-Kanal «DeadBoyWalking». «Als queere Person diese Underground-Story zu erleben, wie mit dem Finger auf dich gezeigt wird und sich darüber zu erheben – das hat mich sehr berührt.»

Für Mik ist die Musicalwelt ein Safe-Space. Ein Ort, an dem er sich als Mensch willkommen fühlt. «Hätte ich als schwuler Junge damals nicht Musicals entdeckt, wäre ich nicht so unbeschadet durch meine Jugend gekommen. In diesen Geschichten konnte ich meine Struggles wiedererkennen.»

Mit der Faszination für Musicals ist er nicht allein. «Musicals machen geradezu süchtig. Weil die Lieder, Ohrwürmer und die Tänze toll anzusehen sind», sagt Stacy Wolf, eine der führenden amerikanischen Theater­wissen­schaft­lerinnen in diesem Bereich. Sie sagt: Musicals lassen uns emotional in Geschichten und Charaktere eintauchen, weil sie so direkt sind. «Gefühle werden im Musical völlig unverblümt dargestellt, es gibt nichts Verhaltenes oder Subtiles am Musicaltheater.»

Der Sound der Musicals entstand in den 1920er-Jahren

Musicals sind ursprünglich die amerikanische Antwort auf die europäische Operette. Ihre Erfolgsgeschichte beginnt in den 1920er-Jahren im Theaterviertel am Broadway in New York. Die Art und Weise, wie Musicals heute funktionieren, geht auf Komponisten wie Richard Rodgers und Oscar Hammerstein zurück. Sie haben Klassiker geschrieben wie «The Sound of Music» oder «South Pacific» und damit in den 1930er- und 1940er-Jahren neue Standards gesetzt für die Verschmelzung von Handlung, Musik und Tanz.

Person in blauer Kleidung tanzt auf blühender Wiese vor Bergen.
Legende: «The Sound of Music» gilt als die Grossmutter aller Musicals – hier in der gleichnamigen Verfilmung mit Julie Andrews aus 1965. IMAGO/Granata Images

«Ihre Musicals erzählten fast immer eine Liebesgeschichte zwischen einem Mann und einer Frau, die sich erst nicht verstehen und dann doch zusammenkommen», sagt Stacy Wolf. «Für jeden Song ihrer Musicals gab es eine Motivation. Soll heissen: Wenn zwei ein Gespräch führen und die Gefühle überhandnehmen, müssen sie einfach singen.»

Musical trifft auf Rockmusik

In den 1940er- bis 1960er-Jahren werden viele Musicalklassiker verfilmt und machen das Genre international bekannt. Zahlreiche neue Bühnenstücke entstehen in dieser Zeit, darum spricht man auch von der «Goldenen Ära» des Musicals, so Stacy Wolf. «Musicalsongs liefen damals im Radio und standen monatelang an der Spitze der Charts.»

In den 1960er-Jahren ist das vorbei. Es ist die Zeit der Rockmusik, der Beatles und Elvis Presley. «Viele Leute waren sich sicher, dass das das Ende des Musicaltheaters sei.» Das Genre Musical muss sich neu erfinden: Musicalkomponisten integrieren Rockmusik in ihre Stücke, mit Musicals wie «Hair» (1967) und «Jesus Christ Superstar» (1970) sind Galt MacDermot und Andrew Lloyd Webber Vorreiter in diesem Bereich.

Personen jubeln und tanzen in einer lebhaften Gruppe.
Legende: Das mehrfach adaptierte Original «Hair» von 1967 gilt als Meilenstein in der Popkultur und brachte das Genre wieder zurück in den Unterhaltungs-Olymp. IMAGO/Everett Collection

In den 1980er-Jahren werden die Produktionen immer aufwendiger. Mega-Musicals wie «Cats», «Les Misérables» oder «Phantom of the Opera» werden international extrem erfolgreich, wie in den 1990er-Jahren auch viele Disney-Musicals, darunter «The Lion King». Sie sind heute Klassiker, gelten aber auch als regelrechte Cashcows, als Geldmaschine. Es gehe mehr um hohe Einnahmen als um künstlerische Tiefe, sagen Kritikerinnen und Kritiker des Genres.

Das stimmt zum Teil. Für Musicaltickets kann man schnell mehrere hundert Franken ausgeben. Doch Kostüme, Bühne, Marketing und Lizenzgebühren seien teuer, sagen Musicalveranstalter, und Musicals bekommen meist keine staatlichen Zuschüsse.

Neben den Heile-Welt-Musicals gibt es im Mainstream auch anspruchsvolle Stücke. Denn Musicals haben von Anfang an soziale und politische Themen auf die Bühne gebracht. «Gerade, weil sie kommerziell funktionieren müssen, müssen sie sich immer auf die Gegenwart beziehen, sonst würden die Leute keine Tickets kaufen», sagt Musicalexpertin Stacy Wolf.

Revolution, Depression, Korruption

«Les Misérables» spielt während der Französischen Revolution, greift aber bis heute aktuelle Themen wie soziale Ungleichheit und Armut auf. «The Color Purple» handelt von Frauenrechten. «Next to Normal» von Depressionen. Und «Hamilton» erzählt von Immigration. Es gibt Musicals über Korruption, LGBTQ-Themen und immer wieder über Akzeptanz und Selbstfindung.

Frau in Pelzjacke und Hut winkt von Auto.
Legende: «The Color Purple» in seiner Film-Neufassung aus 2023 zeigt den Kampf einer Schwarzen Frau in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts. IMAGO/ZUMA Press

Musicals bieten dem Publikum die Möglichkeit, sich mit komplexen und schwierigen Themen auseinanderzusetzen, ohne dabei auf die unterhaltende Wirkung von Musik, Tanz und Schauspiel zu verzichten. Und weil sie diese Themen in einer zugänglichen und emotionalen Form darstellen, erreichen sie auch ein breites Publikum.

Musicals aus der ganzen Welt – und auf Tiktok

Viele Länder auf der ganzen Welt haben inzwischen ein eigenes Musical-Repertoire, in Südkorea zum Beispiel gibt es eine lebendige und aufstrebende Musicalszene. Mik sieht das Musical als ein dynamisches Genre, das lebt und das immer wieder neue Stile und Technologien aufgreift.

Das Musical «Epic» sei auf Tiktok geschrieben, beworben und animiert worden. «‹Epic› kommt in den Streaming-Zahlen an ‹Hamilton› heran und ist zu einem der bedeutendsten Musical-Alben der letzten zehn Jahre geworden. Aus einem Fan-Projekt heraus.»

Hierzulande sind Musicals eher altbacken

Im deutschsprachigen Raum seien jedoch nach wie vor hauptsächlich Importstücke zu sehen, die übersetzt werden: das Michael-Jackson-Musical zum Beispiel oder das über Tina Turner. «Das sind nicht die Stücke, die die Welt bewegen. Das sind die aktuellen, neuen Stücke. Da müsste wirklich investiert werden. Und ich glaube, dass das deutsche Musical ein bisschen altbacken ist», so Musicalfan Mik.

Sängerin auf der Bühne mit Mikrofon.
Legende: «Simply The Best – Die Tina Turner Story» macht auch immer wieder Halt in der Schweiz. IMAGO/Future Image

Doch Mik sieht viel Potenzial im Genre Musical. Und wenn wir uns die Geschichte des Musicals anschauen, hat sich das Genre tatsächlich immer wieder neu erfunden. «Das Musical ist nur ein Medium, das Geschichten transportiert. Da gibt es für jeden Musik- und Geschichten-Geschmack etwas. Wenn mir also jemand sagt, dass er keine Musicals mag, dann sage ich: Du hast das Richtige noch nicht gefunden.»

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 13.12.2024, 9:03 Uhr

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