Im Silicon Valley gilt das Motto «Move fast and break things» – mach schnell vorwärts und kümmere dich nicht darum, ob dabei etwas kaputtgeht. Manchmal kann das, was in die Brüche geht, auch der Gründungszweck des eigenen Unternehmens sein, so zum Beispiel bei Instagram: Das soziale Netzwerk startete als Check-In-App, bevor man auf das Teilen von Fotos umschwenkte.
Hätten sich die ursprünglichen Pläne hinter Youtube erfüllt, dann wäre die Video-Plattform heute ein Dating-Dienst, eine Art Tinder mit Videos. «Wir wollten etwas mit Video machen und dachten, Dating sei die logische Wahl», erinnerte sich Mit-Gründer Steve Chen vor einigen Jahren. Mit-Gründer Jawed Karim ergänzte später: «Wir hatten sogar einen Slogan dafür: ‹Tune in, Hook up›.» Per Annonce wurden Frauen aufgefordert, Videos von sich auf YouTube zu laden und dafür eine Belohnung von 100 Dollar zu erhalten.
Vom Zoo zur zweitmeistbesuchten Webseite
Doch als nach einer Woche noch kein einziges Dating-Video auf der neuen Plattform gelandet war, öffnete sich Youtube notgedrungen für andere Inhalte. Das erste Youtube-Video hat darum wenig mit Partnersuche zu tun: Es zeigt den 25-jährigen Jawed Karim, der vor dem Elefanten-Gehege des San Diego Zoos etwas unbeholfen feststellt, dass Elefanten lange Rüssel haben.
20 Jahre später sind zu Karims Zoo-Video geschätzte 14 Milliarden weitere Videos dazugekommen. Aus Youtube ist die grösste Video-Plattform der Welt geworden, die zweitmeistbesuchte Webseite nach google.com.
Noch mehr schwindelerregende Zahlen: Schätzungsweise wird jede Minute mehr als 500 Stunden Videomaterial auf die Youtube geladen, 720'000 Stunden pro Tag. Ein Mensch könnte also 82 Jahre lang nur Youtube schauen und hätte immer noch nicht all die Videos gesehen, die an einem einzelnen Tag neu erscheinen.
Ob Musikvideo oder wissenschaftliche Abhandlungen, ob Reisebericht, Make-up-Tutorial oder Verschwörungserzählungen: Auf Youtube findet sich alles, wofür sich ein Mensch interessiert. Oder eben auch nicht.
Es gibt sie: Videos, die niemand sehen will
Seiten wie Astronaut.io sammeln Youtube-Videos, die noch kaum ein Mensch gesehen hat. Sie sind der riesige unsichtbare Teil des Youtube-Eisbergs, neben den meist gesehenen Videos wie «Baby Shark Dance» (über 15 Milliarden Views), «Despacito» (über 8 Milliarden Views) oder «Wheels on the Bus» (über 7 Millionen Views). Es sind Videos, mit nur einer Handvoll oder gar keinen Views, die Namen wie «IMG 0073» tragen und weinende Babys oder schlecht besuchte Taekwondo-Turniere zeigen.
Youtube ist heute weit mehr als nur eine Video-Plattform: Youtube ist wichtige Infrastruktur – das Rückgrat des Bewegtbild-Internets. Die einen wollen mit ihren Videos Millionen erreichen, die anderen nutzen die Plattform als mehr oder weniger privates Fotoalbum. Ein Ort, an dem Unternehmen ihre neusten Produkte genau so zeigen wie Familien ihr neues Baby.
Googles Coup und Youtubes Rettung
Doch bald schon drohte die Plattform am eigenen Erfolg zu zerbrechen: Die Schwemme neu hochgeladener Videos machte immer mehr Speicherplatz nötig. «Wir sind wie verrückt gewachsen. Die Zahl der Video-Aufrufe nahm exponentiell zu. Wir haben uns jeden Server genommen, den wir finden konnten», sagte der Ingenieur und erste Youtube-Angestellte Yu Pan über diese Zeit.
Wie viel Speicher Youtube heute braucht, ist nicht bekannt. Schätzungen sprechen von Exabytes oder gar Zettabytes – ein Zettabyte entspricht einer Billion Gigabytes.
Eine weitere Herausforderung: Zunehmend fand auch urheberrechtlich geschütztes Material seinen Weg auf die Plattform und Youtube sah sich mit Klagen von Rechteinhabern wie Musik-Labels konfrontiert. Diese Probleme nahmen erst ein Ende, als Google Youtube im November 2006 für den damals stolzen Preis von 1,65 Milliarden Dollar übernahm und somit viel Geld in die Infrastruktur der Plattform investiert werden konnte. Googles Kauf hat sich indes mehrfach gelohnt: Der Wert von Youtube wird heute auf bis zu 400 Milliarden Dollar geschätzt.
Mit viralen Videos Millionen verdienen
Google hatte die finanziellen Mittel, um die Plattform weiter wachsen zu lassen und implementierte 2007 eine weitere Neuerung, die sich als massgebend für den langfristigen Erfolg von Youtube erweisen sollte: das Partner-Programm, das es Nutzerinnen und Nutzern möglich macht, per Beteiligung an den Werbeeinnahmen mit ihren Videos Geld zu verdienen. Wird ein Video 100 Mal geschaut, fallen etwa fünf Dollar für den Macher oder die Macherin ab. Ein virales Video, das mehrere hundert Millionen Views sammelt, kann also Millionen in die Kasse spülen.
Youtube soll durch das Partner-Programm allein in den letzten drei Jahren über 70 Milliarden Dollar an die sogenannten «Content Creators» ausbezahlt haben – natürlich immer erst, nachdem das Unternehmen selber Geld verdient hat.
Das Zeitalter der Youtube-Creator begann
War die erste Youtube-Ära noch von mehr oder weniger wackelig gefilmten Home-Videos und zufälligen viralen Hits geprägt, begann mit Einführung des Partner-Programms ein neues Zeitalter: Es entstand eine Klasse von Youtuberinnen und Youtubern, die die Plattform seither mit immer professioneller gemachten Videos versorgen.
Erste Youtube-Stars traten auf den Plan, wie der Schwede Felix Arvid Ulf Kjellberg, dem unter dem Namen PewDiePie bald Millionen beim Gamen zuschauten. Andere prominente Youtuber waren in Nischen wie Beauty-Tutorials oder Challenge-Videos erfolgreich. Doch niemand wusste den Youtube-Algorithmus je so zielgenau zu bedienen wie Jimmy Donaldson, besser bekannt als MrBeast.
Rekordverdächtige Youtube-Creator und Videos
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Bild 1 von 6. Jimmy Donaldson aka MrBeast ist der erfolgreichste Youtuber aller Zeiten – und hat mittlerweile den Sprung in ein anderes Medium – nämlich zu Amazon Prime Video – geschafft. Bildquelle: AP Photo/Rebecca Blackwell, File.
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Bild 2 von 6. Der «Gangnam Style» von Psy wurde 2012 zu einem globalen Tanzphänomen – und war das erste Video auf der Plattform, das die 1-Milliarden-Klicks-Marke knackte. Bildquelle: imago/ZUMA Press.
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Bild 3 von 6. Auch die erfolgreiche Youtuberin Bibi von «Bibis Beauty Palace» stellte einen Rekord auf: Ihr Song «How It Is (Wap Bap …)» gehört zu den Videos mit den meisten Dislikes. Bildquelle: IMAGO / Horst Galuschka.
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Bild 4 von 6. Rezos «Die Zerstörung der CDU» (2019) zählt zu den meistbeachteten politischen Youtube-Videos im deutschsprachigen Raum. Bildquelle: imago images/Sven Simon.
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Bild 5 von 6. Pamela Reifs Home-Workouts gingen besonders während der Corona-Pandemie viral – mit ihren Videos setzt sie Massstäbe in der Fitness-Influencerinnen-Branche. Bildquelle: KEYSTONE/DPA/Z1036/_Hendrik Schmidt.
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Bild 6 von 6. PewDiePie wurde durch Gaming-Videos, insbesondere «Let’s Play», berühmt und erreichte 2019 als erster Youtuber 100 Millionen Abos. Bildquelle: IMAGO / TT.
Donaldson, der sein erstes Video vor 13 Jahren auf die Plattform lud, hat über Jahre hinweg genau studiert, was einen viralen Hit ausmacht und seine Videos entsprechend optimiert: Jeder Schnitt, alle Einblender, die Titel und jedes Teaserbild ist darauf ausgerichtet, dem Youtube-Algorithmus zu gefallen. Damit ist MrBeast so berühmt geworden, dass er mit seiner Game-Show «Beast Games» als erster Youtuber auch abseits der Plattform einen Erfolg feiern konnte.
Es kann nicht genug Inhalte geben
«Beast Games» wurde von der Kritik zwar verrissen, gilt aber auf der Streaming-Plattform Amazon Prime mit 50 Millionen Zuschauenden als die meistgesehene Reality-Show aller Zeiten.
Und der Einfluss von Youtube dürfte sich in Zukunft auf weitere Medien ausdehnen: So soll sich Disney überlegen, auf seiner Streaming-Plattform Disney+ ebenfalls Videos von Creators zu zeigen. Denn die unendliche Menge der von Dritten erstellten Inhalte, die Youtube zum Erfolg verholfen hat, könnte den riesigen Hunger grosser Streamer stillen, die immer nach neuem Material suchen.