Lausanne im Frühjahr 1923. Im Chateau d'Ouchy, direkt am Genfersee verhandeln die Siegermächte des Ersten Weltkriegs über die Zukunft der Türkei. Die Sowjetunion ist nicht eingeladen, der sowjetische Gesandte Watzlaw Worowski als Beobachter jedoch zugelassen. Am Abend des 10. Mai 1923 sitzt dieser Watzlaw Worowski mit Begleitern beim Nachtessen. Plötzlich tritt der Russlandschweizer Moritz Conradi an den Tisch, zieht eine Pistole und tötet Worowski mit mehreren Schüssen aus nächster Nähe.
In einem schriftlichen Geständnis hat er bereits vor der Tat erklärt: «Das Recht ist auf meiner Seite, denn mein eigener Vater ist grausam verhungert, verfolgt von den roten Hunden. […] Ich handle aus der Überzeugung, dass die Zerstörung auch nur eines Bolschewiken einen Schritt vorwärts darstellt für das Wohlergehen der Menschheit.»
Bundesrat sieht keine Verantwortung
Weil das Opfer, der sowjetische Gesandte, nicht offiziell an die Konferenz von Lausanne eingeladen war, hält sich der Bundesrat nicht für zuständig. Im Protokoll der Sitzung vom Tag nach der Tat führt er dazu aus: «Die Tat fällt daher als gemeines Vergehen unter die Bestimmungen des waadtländischen Rechtes und ist von den waadtländischen Gerichten zu beurteilen. Sie ist als gemeiner Mord zu verurteilen.»
Zu einer Verurteilung kommt es allerdings nicht. Im Prozess vor einem Geschworenengericht in Lausanne lenkt die Verteidigung den Blick der Verhandlung geschickt auf die Verbrechen der Bolschewiki während der Revolution und weg vom Tötungsdelikt Conradis. Breite Kreise der Gesellschaft inklusive Teile des Bundesrats sind damals stark antikommunistisch eingestellt.
Nur fünf von neun Geschworenen halten Conradi schliesslich für schuldig. Weil für eine Verurteilung eine Zweidrittelmehrheit nötig gewesen wäre, wird er freigesprochen. Die Sowjetunion reagiert mit Empörung und bricht die verbleibenden Verbindungen zur Schweiz ab.
Aussenpolitische Isolation
Die fehlenden Beziehungen zur Sowjetunion brachten die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs in eine sehr schwierige aussenpolitische Situation, meint der Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz Dodis, Sacha Zala: «Die Lage ist für die Schweiz am Ende des Zweiten Weltkrieges sehr, sehr schlecht. Aussenpolitisch ist die Schweiz komplett isoliert.»
Der damalige Schweizer Aussenminister, Bundesrat Marcel Pilet-Golaz, muss seinen Hut nehmen, weil sein Versuch, mit der Sowjetunion Beziehungen zu knüpfen, 1944 scheitert.
Lehren aus der Conradi-Affäre
Erst 1946 kann die Schweiz diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion etablieren. Und Bern versucht zu verhindern, dass die Schweiz je wieder in eine ähnliche Situation gerät wie nach der Conradi-Affäre. Als einer der ersten Staaten erkennt die Schweiz in der Folge die junge Volksrepublik China an, kurz bevor der Ausbruch des Korea-Krieges eine solche Anerkennung politisch unmöglich gemacht hätte.