Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 kam das Militärdepartement der Schweiz ein Jahr später zum Schluss, dass die Schweizer Neutralität zu einem Sicherheitsrisiko geworden ist. Heute sei die Schweizer Armee noch viel mehr darauf angewiesen, mit Armeen und Bündnissen zu kooperieren als 1992. Das sagt der langjährige sicherheitspolitische Experte Bruno Lezzi.
SRF News: Die Neutralität als Sicherheitsrisiko – war das in dieser Zeit in militärischen Kreisen und in der Öffentlichkeit ein Thema?
Bruno Lezzi: Es war in diesem Sinne kein Thema, das die Öffentlichkeit bewegt hätte. Auch die militärische Öffentlichkeit nicht. Natürlich spielte diese Frage immer eine grosse Rolle in allen grossen Gesamtverteidigungsübungen der Armee. In diesem Sinne war die Frage stets im Hintergrund präsent.
Das Militärdepartement argumentierte damals, in vielen Bereichen sei man auf die Kooperation mit dem Ausland angewiesen. Rüstung, Raketenabwehr – das sind alles ganz aktuelle Themen. Ist die Schweiz heute autonom verteidigbar?
Was heisst autonom verteidigbar? Es kommt auf das Konfliktbild an, auf das wir uns einstellen wollen. Sie sehen es im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, Raketenabwehr spielt eine ganz zentrale Rolle.
Man sagt, man möchte vermehrt zusammenarbeiten. Aber dann, wenn es darauf ankäme, dann lässt man es offen.
Ich glaube, die Abhängigkeit ist durch die moderne Technologie und Vernetzung der Systeme grösser geworden, als dies in früheren Zeiten der Fall gewesen ist.
Also wäre man heute eigentlich viel mehr darauf angewiesen, dass man kooperieren könnte?
Ja, genau. Nehmen wir als Beispiel die Luftverteidigung. Den Luftpolizeidienst können wir einigermassen selbst bewältigen. Wir können aber die Luftverteidigung in einem europäischen Krieg allein nicht mehr bewältigen. Auch wenn der F-35 mehr Kapazitäten hat als die F/A-18.
Wir sind angewiesen auf die komplexen Luftverteidigungssysteme der Nato. In diese Systeme müssten wir vermehrt eingebunden werden, wenn wir das ganze Potenzial eines solchen Fliegers richtig nutzen möchten.
Im Dokument des damaligen Militärdepartements wirft die Armee die Frage auf, wer überhaupt ein Interesse hat, mit der Schweiz zu kooperieren, wenn im Konfliktfall die Schweiz sich dann vielleicht wieder zurückzieht.
Das ist genau das Kernproblem. Auch im neuen Zusatzbericht zum sicherheitspolitischen Bericht 2021 wird dieses Thema nach wie vor offengelassen. Man sagt, man möchte vermehrt zusammenarbeiten. Aber dann, wenn es darauf ankäme, dann lässt man es offen.
Ist die Neutralität heute ein Sicherheitsrisiko für die Schweiz?
Ich würde es nicht so absolut formulieren. Wir wissen nicht, wie sich die verschiedenen Konflikte in ihren Dimensionen entwickeln. Gerade als der Terror im Vordergrund stand, da nützte die Neutralität wenig. Die Neutralität alter Schule gemäss den Haager-Vereinbarungen von 1907 war ja zugeschnitten auf den klassischen zwischenstaatlichen Konflikt.
Der heutige Konflikt zwischen Russland und Ukraine wäre ein zwischenstaatlicher Konflikt, allerdings wieder unter ganz anderen Voraussetzungen. Die Neutralität kann in verschiedener Hinsicht die Sicherheit beeinträchtigen. Ich würde aber davor warnen, sie absolut als Sicherheitsrisiko zu betrachten.
Trotzdem bekunden Sie Mühe mit der umfassenden Neutralität. Was ist denn Ihre Vorstellung, wie es mit der Neutralität weiter geht?
Wir kommen nicht weiter mit juristischen Schlaumeiereien. Gerade Finnland und Schweden zeigen, in welche Richtung es gehen müsste. Das ist halt die Annäherung an die Nato. Diese beiden sicherheits- und militärpolitisch versierten Länder haben gespürt, es geht allein nicht mehr.
Allerdings sind sie in einer völlig anderen geopolitischen oder geostrategischen Lage als die Schweiz. Ich glaube, wir kommen nur weiter, wenn wir jetzt die Themen auf den Tisch legen und offen diskutieren.
Das Gespräch führte Tobias Gasser.