Natürlich dürfe die Schweiz Waffen exportieren. Die Neutralität definiere aber klare Grenzen für diesen Waffenexport, auch für den indirekten Export über ein Land wie Deutschland in ein Drittland, sagt Oliver Diggelmann, Völkerrechtler an der Universität Zürich: «Der Grundsatz ist: keine Beeinflussung des militärischen Kräfteverhältnisses in einem aktuellen Staatenkrieg. Das ist quasi die Essenz des völkerrechtlichen Neutralitätsrechts.»
Entscheidend sei, dass die Schweiz in einem aktuellen Konflikt das Kräfteverhältnis zwischen zwei Ländern nicht beeinflussen dürfe. Um das zu kontrollieren, muss Deutschland zum Beispiel, wenn es Schweizer Munition oder Waffen kauft, eine Erklärung unterschreiben, dass es diese nicht an ein Drittland weiter liefert.
Nun möchte die sicherheitspolitische Kommission des Ständerats aber zwei Ausnahmen im Gesetz festschreiben. Wenn nämlich die Munition mindestens fünf Jahre in Deutschland ist und wenn sich ein Drittland selber verteidigen muss, dann soll Deutschland die Schweizer Munition weiter liefern können.
Die Gesetzesänderung würde auf die militärischen Kräfteverhältnisse in einem aktuellen Staatenkrieg Einfluss nehmen.
Das könne man so entscheiden, sagt Oliver Diggelmann: «Ein Problem gibt es aber, wenn man diese neu avisierte Regelung auf den aktuellen Krieg anwenden würde. Die Gesetzesänderung würde auf die militärischen Kräfteverhältnisse in einem aktuellen Staatenkrieg Einfluss nehmen.»
Neutral oder eben nicht neutral
Das bringt das grundsätzliche Problem zum Ausdruck. Wenn die Schweiz an der Neutralität festhalte, gebe es schlicht keine Möglichkeit für die Schweiz, die Ukraine im aktuellen Krieg mit Waffen oder mit Munition zu unterstützen, sagt Diggelmann: «Militärisch zu unterstützen geht nicht, wenn man Russland nicht gleich behandeln will, was absurd wäre. Das ist der Kern des Neutralitätsrechts. Ausser, man wolle es bewusst verletzen, was in der Vergangenheit ja auch schon geschehen ist.»
Der Grundsatz, dass beide Kriegsparteien gleich behandelt werden müssen, ist mit dem Gewaltverbot der UNO-Charta Artikel 2 Absatz 4 obsolet geworden.
Einen konträren Standpunkt nimmt Thomas Cottier ein. Der emeritierte Völkerrechtler der Universität Bern sagt: «Der Grundsatz, dass beide Kriegsparteien gleich behandelt werden müssen, ist mit dem Gewaltverbot der UNO-Charta Artikel 2 Absatz 4 obsolet geworden.»
Cottier argumentiert, dass die UNO-Charta und das in ihr verankerte Gewaltverbot und das Recht, sich kollektiv zu verteidigen, neuer seien als das Neutralitätsrecht und deshalb höher zu gewichten seien. Er ist deshalb überzeugt, dass der Bundesrat schon heute die Weitergabe von Waffen an die Ukraine gutheissen könnte.
Weil dieser das aber nicht mache, brauche es die Gesetzesänderung, um den Bundesrat unter Druck zu setzen: «Ich denke, die Reformbestrebungen sind notwendig, einerseits um kurzfristige Probleme zu lösen, andererseits aber auch um die längerfristige Politik der Kriegsmaterialausfuhr neu zu definieren.»
Nur nicht-kriegsführender Staat kann Unterstützung leisten
Oliver Diggelmann unterstellt Cottier ein falsches Verständnis. Natürlich gälten das Gewaltverbot und das Recht, sich kollektiv zu verteidigen; diese änderten aber nichts an den Regeln, welche für den Neutralen gälten: «Neutralität ist ein völkerrechtlicher Status, ein ganzes Bündel von Rechten und Pflichten. Dieser Status bestimmt die Spielräume desjenigen, der nicht militärisch teilnimmt. Das ist gewissermassen der harte Kern. Wenn man nun einen Staat unterstützen will, durch Waffenlieferung bei der Selbstverteidigung, kann man das als nicht-kriegsführender Staat, wie es Deutschland oder Dänemark ist, aber eben nicht als neutraler.»
Diggelmann vertritt hier die mehrheitliche Lehrmeinung; Cottier eine Minderheitsmeinung. Interessanterweise nähern sie sich aber einander an, wenn es um die Zukunft geht, denn Diggelmann sagt, dass die avisierte Gesetzesänderung eine Lösung für die Zukunft sein könnte.
Wenn die Schweiz mit dem neuen Recht Waffen nach Deutschland liefern würde, müsste Deutschland diese fünf Jahre für sich behalten; danach könnte Deutschland aber frei über die Waffen verfügen und diese auch an ein Land im Krieg weiter liefern. Das sei kein Bruch mit der Neutralität, weil es aus heutiger Perspektive kein Einwirken auf einen aktuellen Konflikt wäre.