Zum Inhalt springen

Das Leben der anderen Geschwister behinderter Kinder: «Wusste lange nicht, wer ich bin»

Geschwister von Kindern mit Behinderung tragen oft eine unsichtbare Last: Ängste, Verantwortung und Einsamkeit. Eine neue Studie zeigt, wie wichtig Unterstützung für diese Kinder ist.

«Ich wollte als Kind niemandem zur Last fallen», sagt Joel (Nachname der Redaktion bekannt). «Deshalb habe ich mit niemandem über meine Probleme gesprochen.» Der 23-Jährige ist mit einem Bruder aufgewachsen, der eine Behinderung hat. «Uns hat niemand gesehen», sagt ihre gemeinsame Schwester Lea.

Lea und Joel sind sogenannte Geschwisterkinder. So nennt man landläufig Geschwister von Kindern mit Behinderung oder chronischer Krankheit. Offizielle Zahlen gibt es in der Schweiz nicht. Aber man schätzt, dass es über 260'000 von ihnen gibt. Geschwisterkinder sind teilweise stark belastet.

Drei Personen stehen in einem Garten, Rücken zur Kamera.
Legende: Unsichtbar, aber präsent: Manchmal fühle es sich an, als wären Geschwisterkinder nur Statisten im Familienbild. zVg

«Ich hatte jede Nacht Angst, dass David stirbt», erklärt die 26-jährige Lea. «Ich lag im Bett und glaubte, wenn ich nur fest genug an ihn denke, dann passiert ihm nichts.» Auch Joel kennt diese nächtliche Angst: «Ich leide, seit ich zehn Jahre alt bin, an Schlafstörungen.»

Joel und Lea sitzen am Esstisch in ihrem Elternhaus. Ihr kleiner Bruder David ist nicht da. Er arbeitet. In der Reinigung, einem geschützten Arbeitsplatz. David leidet am Dravet-Syndrom. «Das ist eine Genmutation», erklärt seine Schwester Lea. «Neben Epilepsie hat David auch eine Entwicklungsverzögerung und kognitive Beeinträchtigungen.»

Geschwisterkinder sind belastet

Lea und Joel haben nie über ihre Ängste gesprochen – weder miteinander noch mit den Eltern: «Ich wollte ja niemandem zur Last fallen», sagt Joel. «Wenn mich etwas betroffen hat, dann habe ich es für mich behalten.»

Die Bereitschaft der Eltern zum Zuhören wäre vorhanden gewesen. Aber die Geschwister wollten nicht. Sie wollten die Energie der Eltern nicht für sich in Anspruch nehmen. «Für uns stand fest, dass es mit David eine Person in der Familie gibt, die mehr Hilfe braucht als wir», erklärt Lea.

Die Erfahrungen von Lea und Joel decken sich mit den Ergebnissen der ersten Schweizer Studie zu Geschwister von Kindern mit Behinderung. Sie wurde Ende März 2025 veröffentlicht.

Schweizer Studie zu Geschwistern von Menschen mit Behinderung

Box aufklappen Box zuklappen

Der Verein Raum für Geschwister hat im Sommer 2020 die Umsetzung der schweizweit ersten Studie zur Thematik der Geschwisterkinder bei der Hochschule Luzern (HSLU) in Auftrag gegeben. Nun wurden die Gesamtergebnisse veröffentlicht.

Das Ziel der Untersuchung war, entwicklungsfördernde und entwicklungserschwerende Lebenssituationen von Geschwistern von Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten im Kindes- und Erwachsenenalter zu beschreiben.

Dazu wurden Informationen zu objektiven Lebensbedingungen und subjektive Einschätzungen erhoben. Aufgrund der Ergebnisse können nicht nur Chancen und Herausforderungen beim Aufwachsen mit einem Geschwister mit Beeinträchtigung aufgezeigt werden, sondern auch notwendige Unterstützung für die Geschwister und ihre Familien sichtbar gemacht werden.

«Die zentrale Erkenntnis war, dass ein grosser Teil der Geschwister Unterstützung braucht, damit sie sich gesund entwickeln können», sagt die Studienverantwortliche und Sonderpädagogin Judith Adler. «Viele Geschwister leiden unter Belastungen, etwa ein Drittel sehr stark.»

Wenig Aufmerksamkeit von Eltern

Diese Belastungen können ganz unterschiedlich sein: Ein Teil der befragten Geschwister bekommt zu wenig Aufmerksamkeit von den Eltern, weil deren Aufmerksamkeit zur Hauptsache bei dem Geschwister mit Beeinträchtigung liegt.

Eine andere Belastung betrifft das Verhalten des beeinträchtigen Geschwister: «Wenn das Kind in der Öffentlichkeit schreit, schämen sich die Geschwister oft. Oder es belastet sie, wenn das Geschwister sie zuhause schlägt.»

In der Studie der Hochschule Luzern zeigt sich auch, dass ein Teil der Geschwister zu viel Verantwortung übernehmen muss und deshalb zu wenig Zeit für sich selbst hat. Die sozialen Kontakte leiden darunter oder auch die schulische Leistung.

Empfehlungen für Geschwisterkinder

Box aufklappen Box zuklappen

Aus den Ergebnissen der Befragung hat die Forscherin Judith Adler zusammen mit ihrem Team Empfehlungen für Geschwister im Kindesalter formuliert:

Umgang mit dem Thema Beeinträchtigung

  • Unterstützung anbieten, damit das Geschwister akzeptieren kann, dass das Geschwister mit Beeinträchtigung anders ist und bleiben wird.
  • Das Geschwister im Umgang mit den herausfordernden Verhaltensweisen des Kindes mit Beeinträchtigung unterstützen, auch um Handlungsstrategien zu entwickeln.

Übernahme von Aufgaben in der Familie

  • Art und Dauer der Unterstützungsaufgaben des Geschwisterkindes in der Familie klar kommunizieren. Dabei die Bedürfnisse der Geschwister nach Freiräumen für Aktivitäten und Hobbys berücksichtigen.
  • Offene Gespräche innerhalb der Familie über Bedürfnisse und Erwartungen an die Übernahme von Unterstützungsaufgaben aller Familienmitglieder ermöglichen. Bei Bedarf externe Beratung beiziehen (z. B. ein Familiencoaching, psychologische Beratung, Beratung durch Fachorganisationen wie bspw. Cerebral, Insieme, Procap, Pro Infirmis).

Austausch und Sensibilisierung

  • Treffen und Austausch mit anderen Geschwistern ermöglichen.
  • Sensibilisierung der Gesellschaft fördern.

«Wichtig ist daher», sagt Judith Adler, «dass die Kinder genug Zeit für sich selbst haben oder auch Zeit mit den Eltern allein – ohne das Geschwister mit Beeinträchtigung».

Einsamkeit und fehlende Beachtung

In der Studie berichten die Geschwisterkinder auch von Einsamkeit. Das kennt auch Lea. Sie hatte oft das Gefühl, sie sei die Einzige, die diese Ängste und Sorgen hat. Wenn sie ihrem jüngeren Ich etwas sagen dürfte, dann wäre es Folgendes:

«Du bist nicht allein. Es gibt andere Kinder da draussen, die in derselben Situation sind wie du. Du darfst Wünsche und Bedürfnisse haben, darfst um Hilfe bitten, darfst sagen, dass du Angst hast oder dich allein fühlst.»

Wenn sich ihr drei Jahre jüngerer Bruder Joel rückblickend etwas wünschen dürfte, dann, dass er besser informiert worden wäre über die Krankheit und Beeinträchtigung seines Bruders David: «Ich habe mich nicht getraut zu fragen, aber es kam auch nie jemand zu mir und fragte, ob ich verstehen würde, was mit David los ist, ob er es mir erklären solle.»

Die Ressourcen der Geschwisterkinder

Lange Zeit hat man nur die Defizite von Geschwisterkindern gesehen, oft von «Schattenkindern» gesprochen. Judith Adler von der Hochschule Luzern aber plädiert dafür, auch die Ressourcen zu sehen.

Viele Kinder haben durch das Zusammenleben mit einem beeinträchtigten Geschwister besondere Stärken entwickelt: «Sie sind oft sehr früh selbstständig oder haben früh gelernt, sich abzugrenzen und ‹nein› zu sagen.»

Auch Joel und Lea sehen Ressourcen: «Ganz klar: Geduld», sagt der 23-Jährige. «Und Unvoreingenommenheit. Ich verstehe mich mit sehr vielen Menschen, weil ich sie so nehme wie sie sind.»

Lea hat durch David viel Empathie entwickelt und zieht Energie aus dem starken Zusammenhalt der Familie. «Wir sind sehr eng, auch weil wir zusammen durch sehr viele schwierige Situationen gingen und weil wir gelernt haben, einander zuzuhören.»

Die eigenen Bedürfnisse kennen

Nicht nur Geschwister im Kindesalter leiden unter Belastungen. Im Erwachsenenleben kommen neue hinzu. «Ich wusste lange gar nicht recht, wer ich bin – ausser der grossen Schwester von David», sagt Lea. «Ich musste lernen, meine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und meine Gefühle nicht zu unterdrücken. Eine Therapie hat mir dabei geholfen.»

Die eigenen Bedürfnisse kennen und respektieren. Darunter fällt für die Forscherin Judith Adler von der Hochschule Luzern auch, «für sich zu klären, welche Verantwortlichkeiten und Aufgaben von den Eltern in Zukunft übernommen werden können und welche nicht.»

«Wir sprechen viel über die Zukunft»

Mit der Zukunft setzen sich auch David und Lea auseinander. «Manchmal falle ich in ein Loch, wenn ich daran denke, dass unsere Eltern eines Tages nicht mehr da sind,» sagt Lea. «Klar ist aber», ergänzt Joel, «wenn unsere Eltern nicht mehr da sind, werden wir uns um David kümmern».

Den beiden ist bewusst, dass sie ihre Eltern nicht ersetzen können. «Aber wir finden unseren Platz in Davids Leben. Und wir sprechen heute viel mit unseren Eltern über die Zukunft. Das tut gut.»

Empfehlungen für Geschwister im Erwachsenenalter

Box aufklappen Box zuklappen

Eigene Bedürfnisse respektieren

  • Die eigenen Bedürfnisse kennen und respektieren. Für sich klären, welche Verantwortlichkeiten und Aufgaben von den Eltern übernommen werden können und welche nicht.
  • Unterstützung für sich selbst suchen: Möglichkeit einer psychologischen Beratung bei hoher Belastung und verstärkten affektiven Symptomen (z. B. Ängste, Depression).

Übernahme von Aufgaben und Verantwortlichkeiten

  • Offene Gespräche über gegenwärtige und zukünftige Erwartungen innerhalb der Familie führen, wenn möglich mit der Person mit Beeinträchtigung. Bei Bedarf eine externe Beratung hinzuziehen, welche die Familie bei der Planung der Zukunft unterstützen kann.
  • Informationen über Aufgaben und Formen der Beistandschaft einholen (Möglichkeiten einer geteilten Beistandschaft o. ä.) und das weitere Vorgehen diesbezüglich klären. Zuständige Behörden, Fachorganisationen und Vereine anfragen (z. B. Insieme, Procap, Pro Infirmis, Stiftung Cerebral, KESB).
  • Austausch mit anderen Geschwistern suchen, um als erwachsene Person die eigene Geschichte besser zu verstehen und wichtige Informationen auszutauschen.

Radio SRF 3, Input, 6.4.2025, 20 Uhr

Meistgelesene Artikel