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Eltern behinderter Kinder «Mein Leben mit Kindern habe ich mir anders vorgestellt»

Trauer, Erschöpfung und viel Liebe: Eltern von Kindern mit Behinderung leiden im Alltag unter emotionalen Belastungen. Ein Paar lässt uns in seine Gefühls- und Gedankenwelt blicken.

Patric sitzt am Küchentisch und füttert seine 12-jährige Tochter mit Porridge. Immer wieder fallen Michelle die Augen zu. Sie ist müde.

«Vor drei Stunden hatte sie einen heftigen epileptischen Anfall», erzählt die Mutter Manuela, «das gehört zur Tagesordnung.» Patric (Nachname der Redaktion bekannt) weckt seine Tochter mit einem sanften Lachen: «Nur noch ein Löffel, Michelle.»

Mann neben Mädchen im Rollstuhl in einem Zimmer.
Legende: «Ich liebe dieses Kind total»: Die 12-jährige Michelle ist auf umfassende Betreuung angewiesen. Ihre Familie meistert tagtäglich diesen aufreibenden Kraftakt. SRF/Mariel Kreis

Michelle leidet an dem seltenen Gendefekt CDKL5. Sie ist schwer mehrfachbehindert und kann weder kauen, reden noch laufen. «Sie kann uns nicht mitteilen, was sie braucht. Wir müssen es interpretieren», erklärt Manuela.

Schule als grosse Entlastung

Patric zieht seiner Tochter die Winterjacke an. Draussen wartet schon das Taxi, wie jeden Morgen. Es bringt Michelle in eine heilpädagogische Schule. «Für uns ist das eine grosse Entlastung.» Früher haben die Eltern Michelle oft von Therapie zu Therapie gebracht – heute findet viel davon in der Schule statt. 

Was ist der CDKL5-Gendefekt?

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Eine seltene genetisch bedingte neurologische Entwicklungsstörung, die durch früh einsetzende arzneimittelresistente Anfälle und schwere neurologische Entwicklungsstörungen mit erheblicher Verzögerung der motorischen Entwicklung gekennzeichnet ist.

Die CDKL5-Mangelstörung ist eine seltene genetisch bedingte Erkrankung. Zu den Symptomen gehören frühinfantile Epilepsie, Entwicklungs-, Intelligenz- und motorische Einschränkungen.

Ungefähr ein Drittel der Betroffenen kann mit Hilfe gehen, die meisten Patienten sind jedoch auf einen Rollstuhl angewiesen. Zur Behandlung der Krampfanfälle werden Antiepileptika eingesetzt. In den meisten Fällen ist die Kontrolle jedoch nur teilweise oder vorübergehend.

Michelle ist eines von schätzungsweise über 50'000 Kindern mit Behinderung in der Schweiz. Die allermeisten von ihnen, 96 Prozent, werden zu Hause von Eltern oder Angehörigen betreut.

Die Belastung für die Betreuenden ist hoch: Der zeitliche Aufwand mit den vielen Arztbesuchen und Therapien, die auch damit verbundene Vereinbarkeit von Beruf und Familie, administrative Aufwände mit Behörden wie der IV, Gespräche mit der Schule oder finanzielle Engpässe. Dazu kommt, worüber noch weniger gesprochen wird, die emotionale Belastung.

«Die ersten drei Jahre waren eine Trauerphase»

«Ich habe lange Zeit gesagt: Vater sein, ist meine grösste Enttäuschung. Und ich habe das wirklich genau so gemeint», erklärt der 46-jährige Patric am Küchentisch bei einem Früchtetee, nachdem das Taxi mit Michelle abgefahren ist. «Mein Leben mit Kindern habe ich mir anders vorgestellt.»

Frau schiebt Kind im Rollstuhl eine Rampe hinauf.
Legende: Vielleicht nicht das Familienbild, das sie sich erträumt hatte: Mutter Manuela brauchte Zeit, um die eigene Trauer darüber zu verwinden. SRF/Mariel Kreis

Bei Manuela war es weniger Enttäuschung als viel mehr Trauer – ein Trauerprozess, der drei Jahre andauerte: «Man trauert um das Kind, das man nicht hat und um die Bilder als Familie, die man loslassen muss.»

Die Scham wegen der Trauer

Auch Sara Satir kennt diese Trauer: privat, sie ist Mutter von einem 20-jährigen Sohn mit Behinderung, aber auch beruflich. Als Coach begleitet sie Familien mit behinderten Kindern.

Sara Satir – Mutter und Aktivistin

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Lächelnde Frau mit langen Haaren im blauen Oberteil.
Legende: Trice Gantner

Sara Satir ist 45 Jahre alt und Mutter von zwei Söhnen, 17 und 20 Jahre alt. Ihr älterer Sohn lebt mit einer Mehrfachbehinderung. Menschen zu unterstützen, damit sie in ihrem Alltag weniger Stress und Druck erleben, ist ihr Antrieb in allem, was sie tut.

Sie führt seit mehr als 13 Jahren eine eigene Praxis für Coaching und Supervision in Winterthur. Dort begleitet sie Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen in ihren individuellen Themen. Besonders häufig arbeitet sie im Bereich Stressprävention & Selbstfürsorge und bietet auch Workshops zu diesen Themen an.

2018 hat sie einen der ersten unabhängigen Podcasts der Schweiz mitgegründet. Seit dem Sommer 2022 hostet sie zusammen mit Marah Rikli den Podcast der Frauenzentrale Zürich «Sara & Marah im Gespräch mit ...».

Sara Satir ist auch Speakerin und Aktivistin für Inklusion. Im Podcast «Zivadiliring» erzählt sie, wie es ist, ein behindertes Kind zu haben.

«Häufig schämen sich Eltern für diese Gefühle. Ich finde es wichtig, dass man über diese Trauer sprechen darf. Sie bedeutet nicht, dass man das Kind nicht liebt. Es ist eine Trauer, die viel mit einem selbst zu tun hat.»

«Familien werden abgehängt»

Neben der Trauer ist auch Einsamkeit ein grosses Thema: Eltern erlebten es oft, dass sich Freunde nach der Geburt eines behinderten Kindes abwenden. Oder sich Freundschaften nach und nach auflösen.

«Der Gesundheitszustand des Kindes erlaubt es Eltern oft nicht, Ausflüge mit anderen Familien zu unternehmen, Wanderung oder ein Sonntagsbrunch. Die Familien werden abgehängt», erklärt Sara Satir.

Ebenfalls sei es schwierig, neue Kontakte zu knüpfen: «Viele Kinder mit Behinderung sind nicht in der Regelschule. Der Austausch mit Eltern aus dem Quartier findet also kaum statt.» Auch seien viele Spielplätze nicht inklusiv – ebenfalls ein Ort, wo sich Eltern schnell und niederschwellig kennenlernen.

Selbstisolation zum Selbstschutz

Sara Satir beobachtet auch, dass sich viele Eltern mit behinderten Kindern selbst isolieren. So auch Manuela: «Als Michelle klein war, habe ich die Masse an gesunden Kindern und normalem Leben versus meinem Leben nicht ertragen. Deshalb habe ich nie eine Krabbelgruppe oder einen Singkurs mit Michelle besucht.»

Inklusion in der Schweiz: der Stand der Dinge

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2014 ratifizierte die Schweiz die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Die Schweiz verpflichtete sich damit zu einer inklusiven Gesellschaft. Das bedeutet unter anderem: Schutz vor Benachteiligung und Diskriminierung, das Recht auf Barrierefreiheit, die Garantie der Existenzsicherung oder das Recht auf selbstbestimmtes Leben.

Die Umsetzung dieser Behindertenrechtskonvention in der Schweiz wurde 2022 von einem UNO-Ausschuss geprüft. Fazit: Es besteht ein dringender Verbesserungsbedarf.

Im September 2024 haben Behindertenorganisationen die sogenannte Inklusionsinitiative lanciert. Eine Volksinitiative, die effektive Gleichstellung, Teilhabe, Selbstbestimmung und Assistenz von Menschen mit Behinderung fordert.

Der Bundesrat hat im Dezember 2024 einen Gegenvorschlag angekündigt. Das Komitee der Inklusionsinitiative sieht darin einen «historischen Schritt hin zu einer echten Inklusionspolitik», will die Initiative dennoch nicht zurückziehen. Sie bleibe nötig, da die Vorschläge des Bundesrats wichtige Bereiche ausser Acht lassen – etwa die Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehr.

«Selbstisolation ist nicht zuletzt auch Selbstschutz», sagt Sara Satir und bezieht sich wiederum auf die fehlenden inklusiven Angebote: «Wenn es andere Kinder mit Behinderung in diesen Babykursen gäbe, dann würden sich die Eltern weniger einsam fühlen.» 

Der Wendepunkt

Als Michelle drei Jahre alt war, hatte sie teilweise 40 epileptische Anfälle pro Tag. Ihr Leben hing am seidenen Faden. In der Epilepsieklinik realisierte die Mutter Manuela, dass sie seit Michelles Geburt viel zu oft mit ihrem Schicksal gehadert hatte.

Ab jetzt möchte ich das geniessen, was wir haben.
Autor: Manuela Mutter von Michelle, einem Kind mit Behinderung

«Ich sagte mir: Wenn Michelle gehen muss, dann möchte ich die schönen Erinnerungen im Kopf haben. Trotz allem hatten wir ja schöne Momente. Und ich sagte mir: Ab jetzt möchte ich das geniessen, was wir haben.»

Familie sitzt in Flugzeugsitzen, Kind trinkt.
Legende: Schöne Erinnerungen schaffen und, wo möglich, Normalität leben: Dieses Credo stärkt Michelles Familie. privat

Patrics Wendepunkt kam etwas später. Dann, als er merkte, wie bereichernd es ist, mit einer Tochter wie Michelle durchs Leben zu gehen: «Sie zeigt uns knallhart auf, worum es im Leben geht: Geborgenheit, einander zuzuhören, einander zu spüren. Und es geht um Liebe, bedingungslose Liebe.»

Manuela nickt und ergänzt: «Ohne dass Michelle aktiv etwas zurückgibt – eine Umarmung werde ich von ihr nie bekommen, das kann sie nicht – liebe ich dieses Kind total.» Und Patric fügt an: «Im Nachhinein ist es ein Leben, das ich nie mehr tauschen möchte.»

Dorfbadi, Dualski und Disneyland

Seither gilt bei der Familie die Devise: so viel Normalität wie möglich leben. Darunter verstehen Patric und Manuela, aufgrund der Behinderung von Michelle, auf nichts zu verzichten.

Sie reisen so oft wie möglich – im letzten Jahr waren sie in Kanada und Curaçao. Und kurz vor Weihnachten im Euro Disneyland. Regelmässig besuchen sie die Dorfbadi oder grillieren im Wald, Patric fährt mit Michelle Dualski.

Diese Normalität braucht jedoch sehr viel Vorbereitung und Energie, sagt die 45-jährige Manuela: «Kommt man mit dem Rollstuhl durch? Wo wechseln wir die Windel, finden wir geeignetes Essen für Michelle, das sie nicht kauen muss? Dürfen wir unseren Rollstuhl mit in die Badi nehmen?»

Die grosse Versöhnung

Zur Normalität gehört für Manuela und Patric auch ein zweites Kind. Michelles Bruder Severin ist heute achtjährig. «Es war eine Versöhnung», sagt Manuela. Mit Severin hat sie nachgeholt, was sie mit Michelle gemieden hat: Krabbelgruppe, Kindersingen oder Besuche auf dem Spielplatz.

«Ich geniesse es sehr, noch ein gesundes Kind zu haben, mir hilft das wahnsinnig. Es bringt uns so viel Normalität.» Auch Alltagsprobleme bedeuten Normalität: «Probleme mit Hausaufgaben oder Streit finde ich bereichernd», sagt Vater Patric, «das gab es mit Michelle nicht.»

Das Damoklesschwert «Erschöpfung»

Normalität in den Alltag bringen, Ausflüge und Reisen planen und durchführen. Das braucht Kraft und Energie. Wie der ganze Alltag mit einem Kind mit Behinderung: die vielen Arztbesuche und Therapien, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, administrative und finanzielle Hürden. Wie steht es um die physische und psychische Kraft von Manuela und Patric?

Ein Burnout kann ich mir nicht leisten.
Autor: Manuela Mutter von Michelle, einem Kind mit Behinderung

«Je grösser und schwerer Michelle wird, desto schwieriger fällt es mir, sie ins Bett oder in den Rollstuhl zu heben.» Auch psychisch hinterlässt die Betreuung von Michelle Spuren: Patric vergleicht sein Energielevel mit Wellen. «Seit einem halben Jahr gehen die Tiefpunkte immer einen Millimeter mehr runter als sie hinaufgehen. Das macht mir Angst.»

«Wir gehen nie ganz unter»

Auch Manuela hat immer wieder Phasen, in denen sie an ihr Limit kommt. Aber sie sagt: «Ein Burnout kann ich mir nicht leisten.» Ihre Situation vergleicht sie oft mit einem Schwimmer: «Wir gehen nie ganz unter.» Und Patric ergänzt: «Wir springen füreinander ein, dass wir wenigstens das eine Nasenloch noch über Wasser halten können.»

Familie paddelt auf einem See bei sonnigem Wetter.
Legende: Ihre Tochter als Bereicherung verstehen und das zu geniessen, was ihnen gegeben ist – diese Erkenntnis brauchte Zeit und stützt die Eltern von Michelle heute. Privat

Deshalb ist auch die Entlastung so wichtig. Immer wieder buchen sie einen der raren und begehrten Wochenend-Plätze in einem Entlastungsheim, im letzten Herbst sogar eine ganze Woche. «Ich geniesse diese Leichtigkeit sehr. Wir sind in einer halben Stunde durch mit dem Frühstück und können einfach spontan in den Hotelpool. Das macht mir zwar auch ein schlechtes Gewissen, aber ich muss mir eingestehen, dass ich es ohne diese Entlastung nicht mehr schaffe.»

Auch die Aktivistin für Inklusion, Sara Satir, brauchte Entlastung – deshalb wohnt ihr 20-jähriger Sohn nicht mehr zu Hause: Aktuell hat er einen der seltenen Plätze in einer betreuten Wohngruppe. «Ich mache das nicht zuletzt auch, damit ich noch sehr lange für ihn da sein kann. Denn das kann ich nur, wenn ich selbst nicht erschöpfe.»

Radio SRF 1, Regional Diagonal, 25.1.2025, 12:03 Uhr

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