Proteste gegen die deutsche Klimapolitik, Bauern, die mit ihren Traktoren die Strassen blockieren, und nun demonstrieren hunderttausende Menschen in Deutschland gegen Rechts. Was geschieht gerade in unserem Nachbarland? Der Soziologe Oliver Nachtwey hat sich die jüngsten Demos genauer angesehen.
SRF: Seit Anfang der 1990er-Jahre wurde das Demonstrieren in Deutschland, mit Ausnahme der Klimademonstrationen, eigentlich immer weniger wichtig. Das hat sich nun deutlich verändert. Warum?
Oliver Nachtwey: So stark hat sich die Demonstrationskultur in Deutschland nicht verändert. 2003 haben zum Beispiel 500'000 Menschen gegen den Irakkrieg demonstriert. Geändert hat sich, dass die sozialen Bewegungen, die oft die Träger von Protesten waren, schwächer geworden sind.
Es wird ernster. Es geht um grosse und wichtige Fragen
Jetzt sehen wir vermehrt Proteste, die dezentral organisiert sind. Und Proteste, die eine grosse Entfremdung der Demokratie ausdrücken. Und diese Entfremdung betrifft eben sehr viele Menschen.
Man hatte lange den Eindruck, Demos bringen wenig. Ändert sich das gerade?
Das kann man noch nicht genau sagen. Bei den «Fridays for Future»-Demos gingen sehr viele auf die Strasse, geändert hat sich hingegen wenig. Was sich aber ändert: Es wird ernster. Es geht um grosse und wichtige Fragen. Zum Beispiel um die Zukunft der Bauern und ihrer Höfe. Oder wie zuletzt, um die Frage der Demokratie. Das treibt viele Menschen aktuell nach vorne.
Das sind übergeordnete, existenzielle Fragen. Sind das neuerdings Proteste für Werte, für eine lebenswerte Zukunft?
Demonstrationen sind immer mit Werten verbunden. 1999 hat man für eine lebenswerte Zukunft gegen die Gründung der Welthandelsorganisation in Seattle demonstriert. Danach wurde eine europäische globalisierungskritische Bewegung gegründet, wo es um einen fairen Welthandel – also um Werte – gehen sollte.
Die Bevölkerung ist mit den politischen Eliten unzufrieden.
Was aktuell in Deutschland entsteht, ist der Eindruck, dass die Parteien in der Regierung und in der Opposition, nicht mehr fähig sind, die Ansinnen der Bevölkerung aufzunehmen und die grossen Probleme zu lösen. Das macht diese Proteste so impulsiv und eindrücklich.
Wird hier eine Kluft zwischen den «herrschenden Elite» und der Bevölkerung sichtbar?
Ja. In all diesen Protesten zeigt sich ein gewisses populistisches Moment in dem Sinne, dass die Bevölkerung mit den politischen Eliten unzufrieden ist, dass sie sich nicht vertreten und nicht gut regiert fühlt.
Es war kein Protest der radikalen Ränder.
Bei den jüngsten Demonstrationen waren nicht die «radikaleren Flügel» des politischen Spektrums beteiligt, sondern Leute aus der Mitte der Gesellschaft. Was sagt das über die Öffentlichkeit aus?
Ich war selbst auf einer der grössten Demonstrationen an diesem Wochenende in Hamburg. Die Demonstration war so gross, dass sie abgebrochen werden musste. Es war ein bunter Querschnitt der Gesellschaft. Die Demonstrationen zeigen zudem einen Ausbruch aus der Ohnmacht. Viele Menschen haben jahrelang den Aufstieg der AfD in Deutschland beobachtet und hatten den Eindruck, man kann nichts dagegen machen. Man hat sich passiv verhalten.
Bei den Demos am Wochenende konnte man erstmals diese Ohnmacht überwinden. Die Mitte ist aufgestanden. Es war kein Protest der radikalen Ränder, sondern ein Protest der Leute, die sich als demokratische Mitte begreifen und sich um die Fortexistenz der demokratischen Gesellschaft sorgen.
Das Gespräch führte Raphael Zehnder.