Es war ganz zu Beginn der Coronapandemie. Ein SMS-Wechsel mit Brüni zeigte mir, wie er zu diesem Virus steht: Es sei nicht mehr als eine Grippe und man müsse der Natur den Lead überlassen, nicht der Pharmaindustrie. «Ich glaube nicht an die Schulmedizin und die Pharmaindustrie dahinter», schrieb mir Bruno Gähwiler, wie er mit vollem Namen heisst, im Frühling 2020.
Ich war damals in einer solchen Wut gefangen. Ich konnte gar nicht anders.
Im Gegensatz zu ihm machten für mich die Erklärungen der Wissenschaft Sinn und demnach waren für mich auch die Massnahmen nachvollziehbar. Ich war besorgt um mein vulnerables Umfeld, er um seine Freiheit.
«Nur, weil du niemanden kennst, der an Corona gestorben ist, heisst es nicht, dass es nicht existiert. Oder kennst du jemanden, der an Hunger gestorben ist?», entgegnete ich ihm.
Eine Freundschaft ohne Erwartungen
Brüni und ich kennen uns seit rund 20 Jahren. Er führte die «Tankstell» in St. Gallen, damals meine Lieblingsbar. Zu jeder Stimmung konnte Brüni den richtigen Drink mixen. Man fühlte sich wohl an seinem Bartresen, sei es gemeinsam mit Freunden oder alleine. Er hat jede und jeden aufgefangen und als Gast willkommen geheissen. Oft war es schon hell, wenn man die Bar wieder verliess.
Daraus entstand eine dieser schönen Freundschaften, die an keine Erwartungen gebunden war. Musik, Tanz, Reisen, das Leben feiern – diese Themen haben uns verbunden.
Als es ihn beruflich weiterzog, sahen wir uns nur noch wenig. Aber wenn, dann konnten wir genau an dem Punkt anknüpfen, wo wir beim letzten Mal aufhörten.
Keine Diskussion mehr möglich
Für eine «Input»-Sendung trafen wir uns im Frühling 2021 schliesslich zu einem Spaziergang. Schnell steckten wir, wie so viele in der Pandemiezeit, in einer Endlosdiskussion. Brüni blieb ruhig, mit mir ging beim Treffen mein Temperament durch. Was mir nicht nur nette Rückmeldungen einbrachte.
Für mich war damals klar: Ich konnte Brüni erst nach der Pandemie wieder treffen, zu sehr gingen unsere Meinungen auseinander. Normalerweise kann ich gut damit umgehen, aber während der Pandemie sprach man einfach kaum über etwas anderes. Und ich mochte nicht immer diskutieren.
Der Graben durchriss nun auch mein persönliches Leben.
Das Wiedersehen nach der Pandemie
Wie während der Pandemie abgemacht, haben wir uns «danach» wieder getroffen. Essen ist wie Musik, es verbindet. Sofort folgte Brüni meiner Einladung zur Lasagne. Und sofort war es wieder wie früher, da hing gefühlsmässig keine Pandemie mehr zwischen uns.
Hätten wir uns nicht speziell zu diesem Thema getroffen, wäre unser Gespräch sicherlich um andere Themen gekreist, etwa um das nächste Reiseziel.
Kaum ist Brüni bei mir angekommen, war die «rec.»-Reportage Thema. SRF-Reporter Donat Hofer besuchte verschiedene Coronaskeptiker. Jene, die sich wegen der Coronapolitik vom Staat abgewendet haben. Und auch jene, die genau durch diese in ihren Augen undemokratischen Behördenentscheide politisch aktiv geworden sind. «Dieser Film war gut. So neutral und unvoreingenommen», fand Brüni.
Auch er kritisiert die Medienarbeit während der Pandemie: zu einseitig, zu unkritisch, zu herablassend mit Menschen wie ihm. Es seien nicht die Skeptiker gezeigt worden, die «glaubwürdig die andere Seite vertraten». Im Gegensatz zur «rec.»-Reportage seien vor allem laute und wütende Skeptiker gezeigt worden.
Mit Distanz lässt es sich besser reden
Unser Gespräch verlief ruhig. Wir hörten uns zu, versuchten zu verstehen oder konnten Gesagtes so stehen lassen. Ziel des Gespräches war auch nicht, den anderen von der eigenen Haltung zu überzeugen. Das hätte keinen Sinn, da waren wir uns einig.
Auf seine Weise war jeder ein Gefangener der Pandemie.
Jetzt soll es vor allem darum gehen, vorwärts zu schauen und um die Wundpflege. Wir beide sagten während der Pandemie Dinge, die wir heute so nicht mehr formulieren würden. «Ich war damals in einer solchen Wut gefangen. Ich konnte gar nicht anders», sagte Brüni rückblickend.
Auch bei mir ist der emotionale Dampf jetzt raus: «Irgendwie ging es ja allen nicht gut. Dir mit den Massnahmen, der Familie in der Dreizimmerwohnung mit Homeschooling, und ich sorgte mich um meine betagten Eltern», sagte ich zu Brüni. «Auf seine Weise war jeder ein Gefangener der Pandemie.»
Lässt sich die Gesellschaft wieder kitten?
Mit Tell und Glocken gegen die Corona-Massnahmen: Vor allem die Freiheitstrychler prägten die Massnahmen-Kritiker-Bewegung. Ungewohnt heftig für Schweizer Verhältnisse reklamierten sie gegen die Politik. Der abtretende Gesundheitsminister Alain Berset wurde massiv bedroht, noch heute ist er die Hassfigur der Massnahmenkritiker.
Der Graben zeige, dass unsere Gesellschaft schon «gekränkelt» habe, bevor wir 2020 in die Pandemie schlitterten, sagt Sandro Cattacin, Professor für Soziologie an der Universität Genf. «Es gibt Parteien, die es zu ihrer Strategie machten, Grabenkämpfe zu befeuern. Dieser tiefe Graben, den die Pandemie aufgezeigt hat, ist nur eine Folge aus all dem.»
Bewegungen, die sich vom Staat abwenden, zeugen von einer Zeit des gesellschaftlichen Wandels, ist Cattacin sicher. «Ich gehe davon aus, dass wir in 20 Jahren eine ganz neue Schweiz, eine ganz neue Welt haben werden.» Die Frage dabei: Werden die Probleme so gross, dass wir nicht mehr an die Zukunft glauben können?
Brücken wieder aufbauen
Geht es um den Coronagraben (übrigens das Wort des Jahres 2020), wird oft von Brücken schlagen gesprochen. Nur, wie geht das? Was können wir als Gesellschaft tun, um wieder zusammenzufinden? Ich persönlich bin da ein bisschen ratlos. Ausser, dass ich daran glaube, dass es im Kleinen beginnen muss. So wie das gemeinsame Essen zwischen Brüni und mir.
Jetzt muss man in den Dialog treten und die Leiden der Kritikerinnen und Kritiker auch anerkennen.
«Wir müssen versuchen, konstruktiv aus dieser Situation herauszukommen und den Graben teilweise zu schliessen. Dafür müssen wir anerkennen, dass wir in dieser Zeit alle im selben Boot sassen und alle irgendwie daran gelitten haben», sagt Sandro Cattacin. Es gelte, vorwärts zu schauen und sich gemeinsam statt gegeneinander auf schwierige Zeiten vorzubereiten.
Wer macht den ersten Schritt?
Brüni sieht den ersten Schritt bei den Behörden: «Die Politik müsste jetzt hin stehen und sich entschuldigen. Nicht ihre Haltung widerrufen, aber zugestehen, dass sie Leute verletzt hat und für diesen Graben mitverantwortlich ist.»
Den Vorschlag von Brüni finde ich verlockend und könnte ich unterschreiben. Wir beide zweifeln aber, dass man damit auch das Vertrauen der Leute zurückgewinnt, die sich durch die Pandemie dem Staat komplett abgewendet haben. Er persönlich war selber sehr nah dran. Das sei aber in der Phase der Wut gewesen, sagt Brüni heute.
Niemand soll für sich beanspruchen, recht zu haben.
Auch Sandro Cattacin sagt: «Das wäre ein wichtiges Symbol.» Man dürfe nicht mehr alle Kritikerinnen und Kritiker als Schwurbler oder als dumm abstempeln. «Jetzt muss man in den Dialog treten und deren Leiden auch anerkennen.» Denn: Nicht alle Massnahmenkritiker seien auch Staatsverweigerer.
Der Graben sitzt immer noch tief
Jeweils über 60 Prozent haben das Covidgesetz angenommen – zuletzt am 18. Juni. Das waren deutliche Entscheide für die Covid-Politik des Bundes. Trotzdem drängt sich die Frage auf: Wie lässt sich bei der grossen Minderheit von knapp 40 Prozent das Vertrauen in den Staat wieder aufbauen? Diese Menschen zurück ins Boot zu holen, sieht auch der Soziologe als die grosse Herausforderung.
«Das Problem ist, dass dieser Graben wirklich tief sitzt. Ich habe mich auch schon gefragt, wie es möglich wäre, einen Zusammenhalt zumindest zu zelebrieren und etwas anderes ins Zentrum stellen», sagt Cattacin. Denn um mit den Herausforderungen der Zukunft umgehen zu können, müssten wir alle an einem Strick ziehen. Der Soziologe denkt dabei a an ein Ritual, einen Gedenktag oder eine Art Dorffest.
«Alle begegnen sich einmal im Jahr und erinnern sich an den grossen Streit und an das grosse Leiden. Weil: Alle haben auf ihre Art gelitten», sagt Cattacin. Darum sollen sich alle an die Pandemie als gemeinsame Geschichte erinnern. «Niemand soll für sich beanspruchen, recht zu haben», sagt er.