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Impfskepsis: Herausforderungen für die Kommunikation
Aus Kultur-Aktualität vom 03.07.2023. Bild: imago images / Future Image
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Lehren aus der Coronazeit «Impfskepsis ist nichts Negatives»

Impfungen zu propagieren, ohne auch über Risiken zu sprechen, findet Infektiologe Philip Tarr nicht mehr zeitgemäss.

Impfungen zu propagieren, ohne dabei auch über Risiken zu sprechen, ist nicht mehr zeitgemäss: Das legen Studienergebnisse in der Schweiz und anderen Ländern nahe. Die Behörden müssen dazulernen, findet der Infektiologe und Forscher Philip Tarr.

Philip Tarr

Infektiologe und Forschungsleiter

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Prof. Philip Tarr ist Co-Chefarzt und Leiter der Allgemeinen Inneren Medizin Bruderholz am Universitären Zentrum Innere Medizin am Kantonsspital Baselland und Leiter Infektiologie und Spitalhygiene. 2017-2022 leitete er das nationale Forschungsprogramm NFP 74 zur Impfskepsis in der Schweiz.

SRF: Vor Corona, also vor 2020, hatte sich die Impfdebatte in der Schweiz beruhigt. Die Impfquote etwa bei Masern war von 70 Prozent im Jahr 2005 auf 95 Prozent im Jahr 2019 gestiegen. Hat Corona die Impfdebatte neu befeuert?

Philipp Tarr: In den USA wurden Eltern während der Pandemie in regelmässigen Abständen befragt, wie sie zu Kinderimpfungen eingestellt seien. Dabei zeigte sich, dass diese Eltern tatsächlich zunehmend besorgt waren, was die Sicherheit von Kinderimpfungen – gegen Masern, Mumps oder Röteln – betrifft. Dieser Trend wurde der Covid-Impfung angelastet. Auch in der Schweiz sind während Corona die Impfraten vorübergehend eingebrochen.

Wegen der Covid-Impfung?

Das dachte man zunächst, aber das hat sich nicht bestätigt. Das Bundesamt für Gesundheit BAG hat Ende Mai die neusten Durchimpfraten bei den 2-, 8- und 16-Jährigen veröffentlicht. Dabei zeigt sich: Die Kinderimpfraten sind zwischen 2019 und 2022 nicht zurückgegangen. Das ist beruhigend. Trotz der zum Teil sehr emotional geführten Debatte rund um die Covid-Impfung liessen sich Eltern in der Impfberatung offenbar überzeugen, dass Kinderimpfungen eine gute Sache sind.

Man soll die Eltern umfassend aufklären über Nutzen, Risiken und Nebenwirkungen von Impfungen.

Der Einbruch zu Beginn der Pandemie lässt sich vermutlich mit der Angst vor einer Covid-Ansteckung erklären. Das heisst, die Eltern mieden die Kinderarztpraxen eine Zeitlang und verschoben die Impfungen auf später.

Dann läuft beim Impfen also alles bestens?

Nun: Gemäss dem BAG gelten Kinderimpfungen seit vielen Jahren als «wirksam und sicher» – warum sollte man hier also etwas anderes kommunizieren? Bei der Covid-Impfung hingegen wurde deutlich, dass solche simplen Botschaften nicht immer und nicht bei allen funktionieren. Hier haben sich klar die Grenzen dieser Kommunikationsstrategie offenbart.

Wie sollte eine moderne, zeitgemässe Impfkommunikation seitens der Behörden denn aussehen?

Sowohl die Behörden als auch Ärztinnen sollten differenziert über Impfungen informieren, auch über Kinderimpfungen. Das zeigen unsere Forschungsergebnisse wie auch Studien anderer Länder klar. Man soll die Eltern umfassend aufklären über Nutzen, Risiken und Nebenwirkungen von Impfungen, ähnlich wie ein Chirurg, der seine Patienten über einen bevorstehenden Eingriff informiert.

Das Mitreden von Eltern und die Auslegeordnung von Vor- und Nachteilen, um zu einer Entscheidung zu gelangen: Solche Elemente sind ganz wichtig. Denn sie stärken erwiesenermassen das Vertrauen in die Behörden, in die Medizin und in die Ärzteschaft.

Wie beurteilen Sie denn die Covid-Impfkampagne im Rückblick?

Zunächst muss man sagen, dass die Behörden in einer schwierigen Lage waren: Die Pandemie hat uns überrascht, die Impfungen kamen schneller zum klinischen Einsatz als erwartet, das BAG war vielleicht etwas überrumpelt. Aber die Kommunikation kam dann leider konventionell daher: Das BAG «wusste» Anfang 2021, dass Covid-19 das grössere Problem sei als die Impfung dagegen – das war eine Aussage, die man zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht machen konnte.

Wenn eine Impfung neu auf den Markt kommt, muss man erst einmal drei, vier Monate abwarten, um seltene Nebenwirkungen zu erkennen. Erst die breite Verabreichung lässt es zu, die Risikoprofile von Impfung und Krankheit gegeneinander abzuwägen. Die Aussage des BAG war politisch: Man wollte möglichst hohe Impfraten. Auch andere Aussagen der Kampagne waren nicht faktenbasiert.

Zum Beispiel?

Das BAG appellierte an die Solidarität der Bevölkerung: Wer geimpft sei, könne andere nicht anstecken. Das stimmte zwar zu Beginn der Pandemie, aber mit dem Auftauchen der Delta- und Omikron-Variante ergaben die Daten ein anderes Bild. Nämlich, dass die Impfung die Übertragbarkeit des Virus gar nicht wesentlich senkt.

Impfkritische Eltern sind Impfungen nicht kategorisch abgeneigt, aber sie haben viele Fragen, die sie diskutieren wollen.

Spätestens im Herbst 2021 wusste man also, dass man die Impfung den Leuten nicht aus Solidaritätsgründen empfehlen konnte, sondern nur zu ihrem eigenen Schutz.

Sie haben im Rahmen des NFP 74 Impfskepsis bei Eltern und Ärztinnen wissenschaftlich untersucht, auch zu Covid-19, vor allem aber zu den Routine-Kinderimpfungen. Wer in der Schweiz ist impfskeptisch?

Impfskepsis ist in behördenkritischen und in komplementärmedizinischen Kreisen verbreitet. Sei dies bei Eltern, die komplementärmedizinische Angebote beanspruchen, sei dies unter Ärztinnen und Ärzten, die Komplementärmedizin ausüben. Dieser Zusammenhang ist gut belegt, auch in unseren Untersuchungen.

Wie äussert sich eine impfkritische Haltung?

Impfkritische Eltern sind Impfungen nicht kategorisch abgeneigt, aber sie haben viele Fragen, die sie diskutieren wollen. Hier können schulmedizinisch tätige Ärztinnen und Ärzte an ihre Grenzen stossen, sowohl fachlich als auch kommunikativ. Das haben die Ergebnisse einer Online-Umfrage gezeigt, die wir innerhalb der Ärzteschaft gemacht haben: Auf die Frage, ob sie sich wohlfühlten bei der Impfberatung von impfskeptischen Eltern, antworteten nur 43 Prozent mit Ja. Wohler fühlen sich vor allem ältere Ärzte, oder jene mit einer komplementärmedizinischen Zusatzausbildung.

Um welche Themen geht es konkret?

Bei impfskeptischen Eltern geht es primär um die Sicherheit von Impfungen. Sie befürchten langfristige Nebenwirkungen, bringen sie mit Zivilisationskrankheiten wie Allergien oder Autoimmunkrankheiten in Verbindung. Impfkritische Ärztinnen hinterfragen häufig die Wirksamkeit und den Nutzen von Impfungen, und ob jede einzelne wirklich nötig sei.

Ist Impfskepsis das Gleiche wie Impfverweigerung?

Nein. Studien aus der Schweiz und anderen Ländern zeigen alle ein ähnliches Bild, nämlich dass man rund 30 Prozent der Bevölkerung als impfskeptisch bezeichnen kann. Aber die Impfraten sind ja viel höher, so sind in der Schweiz 95 Prozent der Kinder gegen Masern geimpft. Ich interpretiere dies so, dass wenn Ärztinnen und Ärzte sich Zeit nehmen, wenn man die Eltern genügend ernst nimmt und sie differenziert berät in der Praxis, dann werden die meisten ihre Kinder am Ende impfen.

Ist Impfskepsis legitim?

Ja. Impfskepsis ist eigentlich nichts Negatives, sondern ein Zeichen dafür, dass da jemand mitdenkt, dass er oder sie sich relevante und legitime Fragen stellt. Diesen kritischen Fragen sollen wir Ärztinnen und Ärzten uns unbedingt stellen. Denn das sind interessante Diskussionen, die unseren Alltag und unseren Beruf bereichern – auch wenn wir inhaltlich nicht immer einverstanden sind.

Das Gespräch führte Irène Dietschi.

Radio SRF 3, Input, 25.06.2023, 20:03 Uhr ; 

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