Den einen Wolf gibt es nicht. Damit fängt es schon an.
Da gibt es die Verteufelung zum absolut Bösen wie in Werwolfgeschichten und Märchen. Es gibt aber auch die Bewunderung für seine Unbezähmbarkeit. Von Jack London bis zu Hesses «Steppenwolf» und zur Rockband gleichen Namens. Deren hymnische Losung: «Born to Be Wild». Frei, wild, un(be)zähmbar. Der Wolf ist ein Tier zwischen Verteufelung und Verklärung.
In der Kulturgeschichte wandelt sich der Wolf, nimmt unterschiedliche Rollen ein. Doch wann taucht der Wolf auf? Wie haben sich seine Rollen verändert? Und was haben die Wolfsbilder mit dem Menschen zu tun?
Eine Analyse von vier Wolfstypen – aus kulturanthropologischer und naturhistorischer Perspektive.
Der Werwolf
Wann taucht er auf?
Werwolf heisst vom Wortstamm her Mann-Wolf. Er ist beides. Ob im Gilgamesch-Epos, als Isegrim, in Ovids Metamorphosen oder in Lucas Cranachs Darstellung: Immer wieder taucht der Werwolf auf.
Im Mittelalter ist er der Höllenhund. «Im mittelalterlichen Personenarsenal des Katholizismus ist er der Handlanger des Teufels», sagt die Journalistin Petra Ahne. Sie hat das Buch «Wölfe» geschrieben, in dem sie dem Wolf kultur- und naturgeschichtlich nachgeht.
In unserer heutigen, durch Verfilmungen geprägten Vorstellung verwandelt sich der Mann tatsächlich in einen Wolf. Im Mittelalter ist das anders. Die Verwandlung ist eine Sinnestäuschung: «Die wirkliche Verwandlung findet nicht statt, aber alle glauben sie. Auch der Mensch, der sich angeblich verwandelt.»
Der Werwolf bleibt eine Schimäre, ein Trugbild. Dies deshalb, «um dem Teufel nicht zuzugestehen, dass er Schöpferqualitäten hat. Das wäre Gotteslästerung gewesen», sagt Petra Ahne.
Was sich konkret hinter Werwolfgeschichten verbirgt, erklärt der Biologe und «NETZ NATUR»-Moderator Andreas Moser: «Im Mittelalter fällt der Werwolf fast ausnahmslos junge Frauen und Kinder an, beim Viehhüten ausserhalb der Siedlungen. Konkreter geschichtlicher Hintergrund sind Pädophilie, Vergewaltigungen. Um die Taten zu vertuschen, wurden die Opfer nicht selten grauenhaft zugerichtet und hinterher wurde das dem Wolf in die Schuhe geschoben. Der wurde zum Monstrum gemacht.»
Im 20. Jahrhundert taucht der Werwolf weiterhin auf – bis hin zu Remus Lupin in «Harry Potter». Lupin ist Lehrer für «Verteidigung gegen die dunklen Künste». Er ist selbst ein Werwolf. Als Kind wurde er von einem gebissen und verwandelt sich seitdem bei Vollmond.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Tollwut: «Vom Wolf gebissen wird der Mensch selbst zum Wolf, der wiederum andere beisst und zu ‹Wölfen› macht. Das ist kulturhistorisch kaum erwähnt», sagt Andreas Moser: «Naturwissenschaftlich überträgt sich das Tollwutvirus durch einen Biss. Der gebissene Mensch verhält sich bald aggressiv und fällt andere an. Vor diesem naturwissenschaftlichen Hintergrund ist der Werwolf-Mythos zu sehen.»
Je nach Genre ist der Werwolf im 20. Jahrhundert aber nicht mehr nur angsteinflössend. Er wird zunehmend auch ironisiert dargestellt. Paradebeispiel für diese Ironisierung ist das Musikvideo «Thriller» von Michael Jackson, in dem sich der King of Pop in einen Werwolf verwandelt.
Wofür steht er?
«Der Werwolf steht für die bildhafte Variante der Grenzüberschreitung zwischen dem wilden Animalischen und dem bürgerlichen Menschsein», sagt der Kulturanthropologe Nikolaus Heinzer.
Er arbeitet zusammen mit der Kulturanthropologin Elisa Frank gerade an einem Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds zum Thema Wolf.
Charakteristika
Der Werwolf ist Doppelgestalt, grauenhaft hässlich, gibt kehlige Laute von sich, ist blitzschnell, läuft geduckt, hat Tatzen, schwefelgelbe Augen, ledrige Haut, Fell.
Erzählerische Leitmotive sind: Die Verwandlung findet zumeist bei Mitternacht statt, wenn die Turmuhr schlägt, Übergangszeit, Geisterstunde. Vollmond. Wolken ziehen.
Die Verwandlung ist nur im Schattenriss erahnbar. Ein Mann wird zur unkontrollierbaren Bestie, die nach zumeist unschuldigem, jungfräulichen Blut verlangt.
Michael Jackson ironisiert in «Thriller» diese Motive, wenn er seiner Freundin im dunklen Wald einen Antrag macht. «Oh Michael», flötet sie daraufhin. Er müsse ihr noch etwas sagen, flötet er zurück: «Ich bin anders als andere.» Oha! Der Vollmond dräut, Wolken ziehen. Bumm, schlägt die Glocke zwölf und Michael verwandelt sich. Plakativer hat man bürgerliche Existenz und Verwandlung zum Werwolf nie zusammengebracht.
Später kommen sie noch, ach wie zufällig, an einem Friedhof vorbei. Grabsteine öffnen sich – Johannesevangelium goes Pop. Michael wird zum Anführer einer Gesellschaft aus Untoten.
Alle sind schrecklich anzuschauen. Auch das ist ironisch: Alles Hässliche sieht nach Maskenbildner aus. Selbst der Schmutz ist Design und das werwölfisch Unkontrollierte ist zur Massensynchronität durchchoreografiert. Michael ist der Tätschmeister aller Klassen.
Der böse, gefrässige Wolf
Wann taucht er auf?
Das Bild vom bösen Wolf speist sich aus mittelalterlichen Hexen- und Werwolfprozessen, in denen unter Folter alles gestanden wurde, was Kindern angeblich unmenschlich Böses angetan wurde.
Prominent erscheint der böse Wolf in «Rotkäppchen». Das taucht in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm ab 1812 auf, wird mehrfach umgearbeitet. «Die Geschichte geht auf Hofschreiber Charles Perrault zurück», sagt Petra Ahne, «der Ende des 17. Jahrhunderts eine schriftliche Version verfasste.»
Wofür steht er?
Der Wolf stehe «prototypisch für das Dunkel, für die Bedrohung, Rotkäppchen vom rechten Weg abzubringen», sagt Petra Ahne. Das sei «im buchstäblichen wie übertragenen Sinn» gemeint, fügt Andreas Moser an.
Buchstäblich konnte man im Wald von einem Tier angefallen werden. Im übertragenen Sinn meint die «latent sexuelle Komponente – die Angst vor dem bösen Mann als Erziehungsanweisung», wie das die Kulturanthropologen formulieren. Der sexuelle Aspekt sei in der mündlichen Tradition stärker ausgeprägt gewesen, sagt Ahne. Da habe sich Rotkäppchen nackt zum Wolf ins Bett gelegt. Die Brüder Grimm hätten das bereinigt.
Für Andreas Moser steht er für «die Angst vor bösen Männern im übertragenen Sinn, aber auch für die konkreten Ängste bitterarmer Agrargesellschaften, Ziegen und Schafe zu verlieren, mit denen man haushalten muss».
Charakteristika
Der böse, gefrässige Wolf ist überhöht: nicht einfach böse, sondern riesig böse. Er trifft auf die kleine Unschuld. Er ist nicht so tölpelhaft gezeichnet wie in Goethes «Reineke Fuchs». Er hat Strategien.
Erzählerische Leitmotive: In «Rotkäppchen» verkleidet er sich, im «Wolf und die sieben Geisslein» frisst er Kreide, um eine hohe liebliche Stimme wie die Geissenmutter zu bekommen. Der Wolf ist gewitzt, beherrscht, fast gewieft. Bis er Hunger hat. Wenn er frisst, hat er kein Mass und überfrisst sich. Da ist er plötzlich doch blöd.
Kulturanthropologe Heinzer sagt, dem Wolf werde zugeschrieben, er reisse verschwenderisch – anders als der Luchs. Der reisse ein Tier und fresse es wenigstens auf. Da komme eine moralische Wertung ins Spiel: Der Wolf esse sozusagen seinen Teller nicht auf.
Die Kulturanthropologin Elisa Frank ergänzt: «Damit geht eine Vermenschlichung des Wolfes einher. Als ob der sich an moralische Vorstellungen halten müsste.» Die Masslosigkeit sei Behauptung, sagt Andreas Moser: «Wölfe reissen natürliche Beute nicht wahl- und masslos.»
Im Märchen aber überfrisst er sich regelmässig und schläft darob ein. Das ist auch im englischen «Three Little Pigs» so. Dann kommt regelmässig die Rettung. Alle, die gefressen wurden, werden – wie durch ein Wunder oder Mutterhand – wieder befreit. Dem Wolf droht ein qualvolles Ende. In mehreren Geschichten ertrinkt er jämmerlich durch Menschenlist.
Der gutmütige, weise Wolf
Wann taucht er auf?
Ein genauer Zeitpunkt ist nicht festzustellen. Geschichten um Wölfe, die Menschen aufziehen, gibt es, seitdem es Menschen gibt.
Die Wissenschaft ist skeptisch. Den Mythen tut das keinen Abbruch, auch staatstragenden nicht: Romulus und Remus seien von einer Wölfin gesäugt worden. Mit Kipling erobert der weise und sorgende Wolf ab 1894/95 die Kinderzimmer. Da publiziert Kipling zwei Sammlungen mit Erzählungen: «Dschungelbuch». Darin kommt ein Rudel vor mit dem Leitwolf Akela. Ihm unterstellt ist Rama. Rama führt die Wolfsfamilie an, die das «Menschenjunge Mogli» grosszieht.
Wofür steht er?
Den Begriff «Leitwolf» müsse man klarstellen, sagt Moser. Denn Wolfsrudel seien nicht hierarchisch im menschlichen Sinne organisiert. Bei frei lebenden Wölfen gilt die natürliche Autorität und nicht die hierarchische Autorität.
Heisst: Der Älteste, der Familienvater, wird nicht in Frage gestellt. Basta. Beim Menschen ist es möglich, dass ein Älterer – etwa in einer Firma – einem Jüngeren unterstellt ist. Bei Wölfen – undenkbar. Wenn sie denn in freier Wildbahn leben. In Gehegen kann es unter Stress zu Auseinandersetzungen zwischen Alten und Jungen kommen. Aber in freier Wildbahn «sind Rudel meistens eine Familiengemeinschaft mit Vater und Mutter im Zentrum», sagt Moser.
«Kipling zeigt die Seite des Wolfes, die sich bei uns nie durchsetzte, die fürsorgliche, lehrende», sagt Ahne. Der Wolf habe mit dem Menschen mehr gemein, als letzterem manchmal lieb sei, sagt Moser: «Der Wolf lebt im Familienverbund und verteidigt sein Revier – wie die Menschen.»
Charakteristika
«Im Dschungelbuch ist der Wolf pazifistisch. Der reisst kein Kind. Das kommt in der Wirklichkeit sowieso fast nie vor», sagt Ahne. Akela ist der Weise, Schützende, Realist: Gegen den übermächtigen Tiger Shir Khan hat er keine Chance. Zumal, wie Ahne sagt, die indischen Wölfe «klein und mager» seien.
Leitwolf Akela entscheidet sich, das Menschenkind herauszugeben, um sein Rudel zu schützen. Der «unterstellte» Wolf Rama, der Mogli mit seiner Frau zusammen aufzog, beugt sich dem Ältesten. Er muss sich beugen. Ihm bricht das Herz. In dieser Charakterisierung steckt viel Vermenschlichung. Aber Moser sagt, Wölfe seien «absolut in der Lage, wie Menschen eine empathische Beziehung aufzubauen».
Der Unbezähmbare
Wann taucht er auf?
Bei Jack London taucht der Wolf prominent in zwei Werken auf: In «Ruf der Wildnis» (1903) lebt ein Hund, Buck, bei seinem Herrn und als dieser stirbt, folgt er dem «Ruf der Wildnis» und schliesst sich einem Wolfsrudel an. Er geht – in Londons Weltbild – zu seinem wahren Ursprung zurück oder wie Petra Ahne sagt: «London beschreibt, dass das Wilde im Hund jederzeit wieder aktiviert werden kann.»
In «Wolfsblut» (1906) beschreibt London die umgekehrte Metamorphose: Ein Wolf wird zu einem domestizierten Wesen, das bei einer Familie lebt.
Realer Hintergrund: In Nordamerika sind Ende des 19. Jahrhunderts Trapper, Glückssucher und Goldgräber auf dem Vormarsch in unzivilisiertes Gebiet. In jener Zeit ist die Grenze zwischen Kultur- und Naturraum noch klar zu ziehen. In der Wildnis ist der Wolf noch wild. Mit Voranschreiten des Kulturraumes verändert sich das. Davon erzählt Jack London.
Wofür steht er?
Kulturanthropologe Nikolaus Heinzer sagt: «Der Wolf lässt sich nicht ohne weiteres in eine kontrollierte Gesellschaft integrieren.»
Obwohl es genügend Beispiele für eine friedliche Koexistenz gibt. Andreas Moser sagt: «Die soziale Kompetenz ist da. Wölfe haben, jung adoptiert, die volle Fähigkeit, sozialpartnerschaftliche Gefühle wie Zuneigung zum Menschen zu entwickeln. Wenn es nicht ums Fressen geht.»
Er halte «Dances With Wolves» für realistisch, der Film, in dem die von Kevin Costner gespielte Figur, auf vorgeschobenem Posten in der amerikanischen Wildnis eine Beziehung zu einem Wolf aufbaut. «Schon 1548 berichtet Johannes Stumpf in seinen Chroniken über die Zähmung eines Wolfes», sagt Moser.
Charakteristika
Dieser Typus ist wild, lässt sich nur zähmen, wenn ihm eine Beziehung statt Beherrschung geboten wird. Er hat einen Freiheitsdrang.
Erzählerische Leitmotive gibt es einige. Ahne sagt: «Jack London betrachtet den Wolf als ein Symbol für die von sich selbst entfremdete Gesellschaft träger Haushunde. Dem gegenüber steht als Motiv die Härte der Wildnis, das authentische Leben.»
Elisa Frank sieht als weitere Leitmotive: «Mit der Unbezähmbarkeit wird der Mythos der reinen Natur gepflegt. In der reinen Natur lebt der reinrassige Wolf, der sich nicht unterwirft.» Negativ besetzt ist der Unbezähmbare ein unkontrollierbares Monstrum.
Positiv besetzt ist er ein Symbol für Freiheit, Unbeugsamkeit, für ein authentisches Bei-Sich-Sein. Dieses Motiv findet sich wieder in «Born to Be Wild». In Hesses «Steppenwolf» ist es anzutreffen als Teil einer Persönlichkeit, zerrissen zwischen freiheitlich unangepasstem Schöpferdrang und bürgerlicher Anpassung. Der freiheitsliebende Wolf steht ausserhalb der Ordnung.
Die Freiheitsliebe wird bis in Musikvideos zitiert: In David Guettas «She Wolf» ist eine nackte Frau die Unbezähmbare. Eine Meute Männer will sie unterwerfen. Sie wehrt sich – mit magischen Kräften. Hier gibt Freiheitsliebe unerschöpfliche, überirdische Kraft und macht unbeugsam.
So sehr die Zuschreibungen auch wechseln: Sie spiegeln menschliche Projektion. In Anlehnung an einen Filmtitel könnte man sagen:
Der mit dem Wolf tanzt, tanzt mit einem Teil seiner selbst.