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Drei Jahre Ukraine-Krieg Frieden in der Ukraine? Darum ist Europas Rolle so entscheidend

Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine dauert an, die USA wanken. Westliche Werte müssten verteidigt werden, erklärt Historikerin Anne Applebaum – und nimmt auch die Schweiz in die Pflicht.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine geht ins vierte Jahr. Wenige dachten, dass er so lange dauern würde. Und noch weniger dachten 2022, dass Russland überhaupt angreifen würde.

Anne Applebaum war nicht überrascht: weder 2022, als Putins Armee die ukrainische Grenze überquerte, noch heute, wo die neue US-Regierung sich anschickt, die über 80 Jahre gewachsene atlantische Sicherheitsarchitektur einzureissen.

Ein gebrochenes Versprechen 

«Trump hat seit langem verlauten lassen, dass er mit Putin einen Deal abschliessen will. Warum sollte man jetzt etwas anderes erwarten?», fragt sie rhetorisch. Er wolle sich als Sieger inszenieren: Putin und er müssten etwas unterzeichnen, das unterstreiche, dass der Krieg vorbei sei, sagt Historikerin Applebaum nüchtern. Und Trump müsse sein Wahlversprechen erfüllen, den Krieg in 24 Stunden zu beenden: «Ein Versprechen, das er schon lange gebrochen hat.» 

Frau blickt aus dem Fenster, trägt Perlenkette und Blazer.
Legende: Anne Applebaum zählt zu den profiliertesten Kritikerinnen sowjetischer Herrschaftssysteme und russischer Expansionspolitik. IMAGO / El Mundo

Doch nur über einen Waffenstillstand zu verhandeln, reiche nicht, so Applebaum weiter. «Die Russen haben bisher weder in einen Waffenstillstand eingewilligt, noch haben sie auf ihr wichtigstes Kriegsziel verzichtet, nämlich die Zerstörung der ukrainischen Souveränität und der ukrainischen Nation.» 

Seit Jahrzehnten schreibt Anne Applebaum über Osteuropa und die Sowjetunion. Die US-amerikanische Historikerin, die auch die polnische Staatsbürgerschaft besitzt und Polnisch spricht, warnt seit rund 20 Jahren vor dem Putinismus, wie sie das System nennt, das Wladimir Putin und seine Entourage in Russland errichtet haben.

Sie legte den Finger in die Wunde

Als Applebaum 2007 in Berlin einen Vortrag darüber hielt, wohin sich Putin entwickelte und warum das eine Bedrohung für Europa sein könne, war die Stimmung im Publikum wenig wohlwollend. «Die Leute im Saal waren wütend auf mich und bezichtigten mich als kalte Kriegerin und Unruhestifterin. Putin sei ein Technokrat, der versuche, mit uns auszukommen. ‹Wandel durch Handel›, das war damals die Devise.» 

Wer ist Anne Applebaum?

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Denkende Frau in gemustertem Blazer vor lilafarbener Wand.
Legende: Getty Images/Viktor Kovalchuk/Global Images Ukraine

Anne Applebaum, geboren 1964 in Washington D.C., zählt zu den profiliertesten Kritikerinnen sowjetischer Herrschaftssysteme und russischer Expansionspolitik.Zu ihren bekanntesten Büchern zählen «Gulag», «Der Eiserne Vorhang» und «Roter Hunger». Ihr neustes Buch heisst «Die Achse der Autokraten».

1988 begann Applebaum ihre Karriere als Journalistin in Warschau. Später schrieb sie unter anderem für «The Atlantic» und «The Guardian». 2004 erhielt Applebaum den Pulitzer- und 2024 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für ihr Gesamtwerk.

Anne Applebaum ist mit dem ehemaligen Journalisten und heutigen polnischen Aussenminister Radoslaw Sikorski verheiratet. Sie lebt in Polen und den USA.

«Es ist mir also sehr bewusst, dass ich dies zu früh sagte. Ich tat es, weil ich sah, was vor Ort geschah. Ich hörte das Echo der Vergangenheit und sprach Dinge an, die man damals nicht hören wollte.»

Ein Déjà-vu folgt dem nächsten

Das Echo, das Applebaum vernahm, stammte aus dem Zweiten Weltkrieg. Gegen Ende des selbigen besetzte Stalins Rote Armee den Osten Polens und nutzte diesen später als Verhandlungsmasse gegen die westlichen Alliierten. Im Februar 1945 stimmten die USA und Grossbritannien der Annexion Ostpolens durch die UdSSR zu. Im Gegenzug bekam Polen die ehemaligen Ostgebiete des Deutschen Reiches zugesprochen, wurde also nach Westen verschoben. Eine gewaltige Völkerwanderung setzte ein.

An derselben Konferenz beschlossen die UdSSR, die USA und Grossbritannien die Bombardierung Japans und die Entnazifizierung Deutschlands. Ausserdem sollten freien Wahlen in Polen durchgeführt werden – ein Beschluss, der nie umgesetzt wurde. «2014 war ein Déjà-vu für mich», so Applebaum: «Was Putin in der Ostukraine und auf der Krim tat, war exakt dasselbe, was Stalin 1944 in Ostpolen tat.»

Ukraine und ihre besetzten Gebiete

Die Mentalität, die dahintersteckt, sei leider noch immer dieselbe: «Wir sind überzeugt, dass wir unser System einem anderen System brutal aufzwingen können. Wir eliminieren die Intellektuellen, die Institutionen und die Symbole eines Landes. Und dass das so viele Leute 2014 nicht sehen wollten, hat mich richtig wütend gemacht.»

Die Achse der Autokraten expandiert

Denn beim Einmarsch in die Ukraine sei es nicht nur darum gegangen, die Ukraine zu «entnazifizieren» und von der Weltkarte zu eliminieren. Ebenso ging darum, «die Vorstellungen, Regeln und Verträge auszuhöhlen, auf denen das nach 1945 kodifizierte Völkerrecht beruht, die nach 1989 geschaffene europäische Ordnung zu zerstören und dem Einfluss und dem Ruf der USA und ihrer Verbündeten zu schaden». Das schreibt Applebaum in ihrem neusten Buch «Die Achse der Autokraten».

Dies stimme 2025 zwar noch immer, sagt Applebaum. Doch jetzt schickten sich auch die USA an, der «Achse der Autokraten» beizutreten: Mit einem US-Präsidenten, der fast alle Voraussetzungen eines lupenreinen Autokraten erfülle, mit Putin direkte Gespräche führt und der NATO vielleicht den Rücken kehren will.

Die Schweiz müsse das Geld locker machen

Nun brauche es einen Wake-Up Call: «Europa braucht eine Militärallianz und eine finanzielle Allianz, um Russland die Stirn zu bieten». Das Geld dazu – und hier komme die Schweiz ins Spiel – sei vorhanden: «Es gibt 300 Milliarden US-Dollar eingefrorene russische Vermögenswerte, 80 oder 90 Prozent davon bei europäischen Finanzinstituten. Die Zinsen aus diesem Geld werden bereits für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet. Ich denke, es ist an der Zeit, den Rest davon zu nehmen.»

Der Krieg ist zu uns gekommen, auch wenn wir ihn nicht gewollt haben.
Autor: Anne Applebaum Historikerin

Es handle sich um viel Geld, und es gebe ein ausgezeichnetes juristisches Argument dafür, es zu verwenden: «Nach der russischen Kriegserklärung und der unprovozierten Invasion wurde Russland von einer überwältigenden Mehrheit der Mitgliedsländer der UN-Generalversammlung verurteilt.» Auf der Grundlage dieses Entscheids sei es legal, dieses Geld zu nehmen.

Wir müssen unserer Werte verteidigen

Der finanzielle und der militärische Bereich seien essenziell, erklärt Applebaum. Doch ebenso wichtig seien die Werte, die die Ukraine für den Westen verteidige. Mit Werten meine sie Demokratie, Menschenrechte, freie Meinungsäusserung, aber auch den globalen Handel. Gerade die Schweiz habe enorm von diesen Werten profitiert: «Es ist kein Zufall, dass so viele internationale Institutionen ihren Sitz in der Schweiz haben. Wer verstanden hat, dass ihr Wohlstand weitgehend auf dem internationalen Handel und dem Völkerrecht beruht, dem sollte es ein Anliegen sein, diese Ideen zu verteidigen.»

Sich einem Problem zu stellen, sei unangenehm, und sie verstehe, dass viele in Europa keinen Krieg wollten. «Doch der Krieg ist zu uns gekommen, auch wenn wir ihn nicht gewollt haben». Jetzt sei es an der Zeit, sich daran zu erinnern, was dieser Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg – mithilfe der USA – geleistet habe. Und diese Errungenschaften, die dem Westen drei Generationen Wohlstand und Freiheit gebracht hätten, müssten mit allen Mitteln verteidigt werden.

Investitionen ins Militär würden Frieden sichern   

«Wäre die Ukraine 2022 oder bereits 2014 Mitglied der NATO gewesen, wären die Russen möglicherweise nicht einmarschiert. Der Krieg war also auch das Ergebnis davon, dass die Ukraine keinem Sicherheitspakt angehörte und als wenig schlagkräftig galt. Tatsächlich war die ukrainische Armee dann im Jahr 2022 besser, als die Russen dachten.»

Es sei leider so, dass Investitionen in Militär, in Strategie und Abschreckung manchmal einen Krieg verhindern. Das hätten Thomas Mann und andere bereits 1938 verstanden.

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Buchhinweis

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Anne Applebaum: «Die Achse der Autokraten». Siedler, 2024.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 23.02.2024, 11:00 Uhr

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