Die Geschichten von 453 Produkten grenzen seit Kurzem «Das kulinarische Erbe der Schweiz» ein. Da braucht es einen Durchblick. Deshalb beginnt Autor Paul Imhof diese beachtliche Sammlung mit einem Blick von aussen, aus dem Flugzeug.
Von dort beschreibt er das Bild einer mediterranen, atlantischen und kontinentalen Kultur, die auf dem Schweizer Landfleck zusammentrifft. Höchst unterschiedliche Menschen, ihre Sprachen und Geschmäcker prägen die hiesige Esskultur.
Strenge Aufnahmekriterien
Ins Nachschlagewerk haben es Klassiker wie die Engadiner Nusstorte, der Emmentaler Käse, Dreikönigskuchen, Absinth, Cervelat und Aromat geschafft. Doch nicht alles, was man als typisch Schweizerisch versteht, darf hinein. «Man kann nicht jede Tafel Schokolade aufnehmen», so Imhof.
«Das Produkt muss eine Bedeutung haben», heisst dann wohl: Es muss eine Geschichte erzählen. Zudem muss es mindestens 40 Jahre alt sein – in dieser Zeit kann eine Generation ihr Erbe an die nächste weitergeben. Und: «Es muss noch produziert, gehandelt und konsumiert werden.»
Fragt man den ehemaligen Tagesanzeiger-Journalisten, was die Schweizer Esskultur beeinflusst hat, spricht er vom «Konzentrat von Landschaften». Die Bedingungen der Alpen, Seen und Flüsse bestimmen, was die Menschen hierzulande verspeisen.
In das kulinarische Erbe der Schweiz einzutauchen, ist auch eine helvetische Zeitreise, orientiert an sich verändernden Topografien und Menschen. Eine Orientierungshilfe bietet die Einteilung nach Kantonen und Produktkategorien.
Zu Fondue und Rösti erfahren wir nichts: Für einen Überblick von Gerichten und Rezepten haben gemäss Imhof andere gesorgt. Tatsächlich finden sich das Fülscher-Kochbuch und der Tiptopf heute noch in vielen Schweizer Haushalten.
Fleisch am Knochen
Die neue Gesamtausgabe von Paul Imhof ist wuchtig: 1.67 Kilo schwer, mit einem goldschimmernden Leinenband am Buchrücken. Ebenfalls golden sind die Lettern: «Panoptikum des Ess- und Trinkbaren», heisst der Untertitel. Öffnet man die Truhe, erscheinen dicht beschriebene Seiten und appetitmachende Illustrationen. Das kulinarische Erbe der Schweiz ist demnach ein wertvoller Schatz.
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Bild 1 von 4Legende: Ohne Aromat nur fad: Das Streugewürz findet man seit über 70 Jahren in fast jeder Schweizer Küche. Echtzeit Verlag
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Bild 2 von 4Legende: Die weisse Königin: In der Schweiz gehört die St. Galler Bratwurst zu den beliebtesten Würsten. Echtzeit Verlag
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Bild 3 von 4Legende: Zürcher Tirggel, Grittibänz oder Vermicelles: Die Schweiz kann auch süss. Echtzeit Verlag
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Bild 4 von 4Legende: Die Schokolade liegt Schweizerinnen und Schweizern wortwörtlich im Blut: Jedes Jahr werden hierzulande etwa elf Kilo «Schoggi» pro Kopf verzehrt. Echtzeit Verlag
Anekdotenreich und wortmächtig verdichtet Imhof sorgfältig recherchierte helvetische Sprach- und Kulturgeschichte. Die Kulinarik eines Landes habe ihm, dem ehemaligen Singapur-Korrespondenten, schon immer mehr interessiert als die Reden von Politikern. So auch in der Schweiz, wo er mit Kolumnen aus Küchen und Weinkellern bekannt wurde. «Eine lange Wissensentwicklung einfach zu vergessen, nur weil man heute alles industriell produzieren kann, wäre blöd», sagt der 72-Jährige.
Gemeinsamer Nenner: Konservieren
Der kulturelle Schmelztiegel Schweiz spuckt nicht DAS Schweizer Produkt hervor. Geht es nach Imhof, dann ist ein Schweizer Spezifikum vielmehr eine Methode: das Konservieren. «In den Bergregionen konnte man die Milch nicht einfach heruntertragen und im Laden verkaufen», erzählt er. «Man musste sie verarbeiten und haltbar machen.»
Die Geschichten in Imhofs Buch hingegen konservieren lebendige Traditionen. Sie sind modelliert durch Landschaft, eine bäuerlich geprägte Vergangenheit und das Naturell der Menschen. Und sie entwickeln sich weiter. «Es ist ein Prozess», meint Imhof und verrät nicht, ob eine weitere Schatzkiste folgen könnte.