Hier ein Kurs, da ein neues Papier – die schnellen Massnahmen als Reaktion auf die Missbrauchskrise in der römisch-katholischen Kirche seien zwar nötig, doch sie greifen zu kurz, ist Daniel Ammann überzeugt. Sie seien ein Versuch, «das Problem» möglichst schnell in den Griff zu bekommen.
Die Menschen wurden mit körperfeindlichen Konzepten indoktriniert.
Das Problem liege aber viel tiefer. Schuld an der Misere seien verinnerlichte Konzepte, die den Menschen spalten: In ein geistig-spirituelles Wesen einerseits und ein körperliches andererseits.
Körperfeindliche Konzepte stecken unter der Haut
Ammann ist römisch-katholischer Seelsorger in Dagmersellen (LU). Und er ist aktiv in der Männerarbeit. Körperfeindliche Konzepte hätten Menschen jahrhundertelang geprägt, sagt er und greift sich dabei an den Oberkörper: «Die Menschen wurden damit indoktriniert und es ist immer noch in den Körpern gespeichert.» Eine wirkmächtige Tradition, die immer noch unter der Haut stecke, so der Seelsorger.
Eine Tagung der Paulusakademie, die Ammann mitorganisierte, befasste sich deshalb mit dem Zusammenhang von Männlichkeitsbildern, Sexualität und Spiritualität – genau Ammanns Thema. Es ging um kirchliche Dogmen und Konzepte, die einem «Leben in Fülle» im Weg stehen.
Viele Männer leiden unter der Spaltung zwischen Sexualität und Spiritualität.
Die Referierenden sprachen über das überhöhte Priesterbild und die damit verbundene Vorstellung, dazu passe die Abwertung des Sexuellen als etwas Sündiges.
Enthaltsamkeit sei besonders heilig. Die Abwertung des Sexuellen war ebenfalls Thema. Es brauche neue Konzepte, so der Tenor der Tagung, an der auch der Präventionsbeauftragte des Bistums Chur, Stephan Loppacher, sprach.
Der Wille, neue Wege zu gehen
Der Schriftsteller Pierre Stutz erzählte von seiner grossväterlichen Rolle in der queeren kirchlichen Szene. Er plädierte dafür, die sexuelle Kraft als Segen zu verstehen, statt sie zu verteufeln. Elke Pahud de Mortanges, Theologie-Professorin in Freiburg (Schweiz) gewährte einen kritischen Streifzug durch die römisch-katholische Sexualmoral.
Die Zeit scheint reif, ja überreif, die Ideengeschichte der Kirchen zu Körperlichkeit kritisch zu betrachten, sie zu dekonstruieren und neue Wege zu suchen. Wege, die nicht auf Dogmen beruhen, sondern die sich Schritt für Schritt durch Erfahrungen zeigen.
Christoph Walser, Mitbegründer von maenner.ch, dem Schweizer Dachverband für progressive Väter- und Männerorganisationen, teilte seine Erkenntnisse aus der Männerarbeit.
«Viele Männer leiden unter der Spaltung zwischen Sexualität und Spiritualität», erlebe Walser immer wieder. Um das besser zu verstehen, hat der reformierte Theologe, Coach und Berater sich zum Sexologen weitergebildet.
«Zweite Sozialisation» in Männergruppen
Das Bild des starken Mannes, der alles allein schafft und unter Kontrolle haben will, wirke immer noch stark. In Männergruppen könnten Teilnehmende eine andere Art von Mit-Männlichkeit erleben. Das ermögliche eine «zweite Sozialisation», in der hilfreiche Erfahrungen gemacht würden.
Sexualität und Spiritualität seien nur im Kopf getrennt, ist Christoph Walser überzeugt. Im Körper lägen die Erfahrungen nahe beieinander. Etwa im Atmen und im Spüren: im Gefühl, mit einer grösseren Kraft verbunden zu sein.