Als Jay klein war, besuchte sie die katholische Schule und sang im Kirchenchor. Hätte man sie damals nach ihrem Traumberuf gefragt, wäre die Antwort bestimmt nicht «Selbständige Sexworkerin» oder «BDSM-Künstlerin» gewesen. Heute verdient sie damit ihren Lebensunterhalt.
«Die Arbeit bedeutet eine tiefe Auseinandersetzung mit mir selbst und meinem Gegenüber. Sie hat durchaus eine spirituelle Komponente.» Ausserdem bleibe ihr daneben genügend Freizeit, sagt sie.
Jay, die anonym bleiben möchte, merkte schon als kleines Kind, dass es in ihrem Umfeld keinen Raum gab, um über Sexualität und Lust zu sprechen. Sie lernte schnell, ihren eigenen Weg zu gehen, wandte sich der Meditation zu, die «urteilsfreier war als die Dogmen der katholischen Kirche».
Über Umwege landete sie in ihrem heutigen Job, hinter welchem sie voll stehe. Er bedeute aber auch ein ständiges Überprüfen der eigenen Grenzen: «Stimmt das noch für mich?», frage sie sich dauernd. Dass sich viele Sexworkerinnen diese Frage nie stellen können, ist ihr bewusst. Es sei dabei wichtig, zwischen legaler selbstbestimmter Sexarbeit, sexueller Gewalt und Menschenhandel zu unterscheiden.
Kann das nordische Modell helfen?
In der Schweiz ist Prostitution seit 1942 legal, doch die Missstände in der Branche sind unübersehbar: Sexuelle Ausbeutung, Gewalt, Menschenhandel. Viele Länder versuchen daher, Sexarbeit einzudämmen.
Erst kürzlich hat sich das EU-Parlament für das nordische Modell ausgesprochen. Dieses soll Freier bestrafen und Sexarbeiterinnen Hilfe zum Ausstieg bieten. So soll die Nachfrage reduziert und der Menschenhandel besser in den Griff bekommen werden.
Meine Arbeit bedeutet eine tiefe Auseinandersetzung mit mir selbst und meinem Gegenüber.
Die Debatte um das Sexkaufverbot ist jedoch sehr polarisiert. Eine wichtige Rolle spielt unter anderem die Frage, wie freiwillig Menschen ihre Arbeit ausüben. Arbeiten die meisten unter Zwang und würden sofort aussteigen, wenn sie nur könnten? Oder ist Sexarbeit für viele Selbstbestimmung und freier Wille, den es zu respektieren gilt? Klare Zahlen sind schwer zu finden.
Unterwegs auf der Langstrasse
Wenn Pfarrer Karl Wolf auf der Zürcher Langstrasse in der Gassenarbeit unterwegs ist, sieht er ein Milieu, das von Menschenhandel und ausbeuterischen Mechanismen durchdrungen ist, und praktisch keine Freiwilligkeit: «Was wir sehen, ist oft menschenunwürdig.» Frauen aus Osteuropa, die durch einen Bus angeliefert, durch ihre Zuhälter überwacht und nach ein paar Tagen weitertransportiert werden.
Afrikanische Frauen, die in Zimmer zusammengepfercht werden, für die sie auch noch horrende Preise zahlen müssen. «Ich sehe sehr viel Angst in ihren Gesichtern. Wir sehen auch, dass Frauen plötzlich verschwinden», sagt Wolf.
Auf die Frage, ob er in der Tätigkeit der Frauen Sünde sieht, schüttelt der Kirchenmann den Kopf. Für ihn seien die Frauen zunächst Menschen, mit denen er viel Herzlichkeit erlebe. «Ich würde sie nie verurteilen, ihnen die Kommunion verweigern oder sie bekehren, wie das andere religiöse Gruppen machen.» Er versuche, sie konkret zu unterstützen, damit sie ein eigenständiges Leben finden und gestalten könnten.
Kürzlich habe ihn eine der Frauen um seinen Segen gebeten. Während er sie auf den Knien segnete, habe sie ihm ins Ohr geflüstert: «Du musst mir helfen, der Freier dort hinten ist gewalttätig, er verfolgt mich.» Er habe sie begleitet, bis sie in Sicherheit war – jedoch nur für einen Moment.
Mehr oder weniger Gewalt durch Verbot?
Auch Jay sieht Missstände und setzt sich für die Rechte von Sexworkerinnen ein. Sie ist jedoch überzeugt, dass ein Verbot des Sexkaufs nicht helfen würde.
Menschenhandel sei ja jetzt schon illegal und werde trotzdem ausgeübt. «Sexarbeit würde mit einem Verbot nur weiter in die Illegalität rutschen und die Arbeitsbedingungen aller – Frauen, Männer, Transmenschen, Agender und Non-Binärer – verschlimmern. Vor allem aber der Menschen, die das Geld wirklich brauchen.» Zusätzlich bestehe die Gefahr, dass die anständigen Kunden nicht mehr auftauchen und die Gewalt so zunehmen würde.
Es brauche daher einen differenzierten Blick auf die Probleme der Branche, so Jay weiter. «Man muss den Opfern unbedingt helfen, aber die anderen dabei nicht bestrafen, für die der Job auch zufriedenstellend ist.»
Die Rolle der Religion
Die Frauen, denen Pfarrer Karl Wolf auf der Zürcher Langstrasse begegnet, sind häufig tief religiös. Die Religion wirke wie ein Anker, häufig als letzter Halt. Gleichzeitig stehe Religion für manche am Ursprung ihres Schicksals.
«Frauen aus Westafrika werden zum Teil von Freikirchen, von Pastoren rekrutiert. Sie werden in religiösen Riten körperlich markiert und so gefügig gemacht.» Wer aussteigt, würde vom Dämon verfolgt, so die Drohung. So werden die Frauen in mafiösen Strukturen gefangen gehalten.
Seit der Pandemie beobachte man einen Anstieg an Gewalt gegenüber Prostituierten, sagt Karl Wolf. Diese müssen dringend geschützt werden. «Ein Verbot würde Prostitution niemals ausmerzen, das zu denken wäre naiv.»
Trotzdem befürwortet er das nordische Modell, denn «manchmal gilt es Leitplanken zu setzen, um grosse Entwicklungen anzustossen». Und solche Regelungen könnten Frauen beim Ausstieg helfen und ihnen eine echte Perspektive bieten.
Viele Männer haben nicht gelernt, ihre Aggression und Sexualität zu integrieren und wollen diese mit den Prostituierten ausleben.
Doch wie Jay findet auch Wolf, man müsse die Branche differenziert anschauen und sich genau fragen, wo welche Gesetzgebung nötig sei. Und vor allem die Ursachen von Missständen und Gewalt ins Blickfeld rücken: Armut und Migration und die mangelnde sexuelle Aufklärung vieler Männer.
Eine Sprache für Sexualität finden
Viele Freier suchen Wärme und Geborgenheit oder eine Erfüllung, die es weder im Milieu noch überhaupt zu kaufen gibt, so Karl Wolf. «Sie leiden in ihrer Ehe, unter Einsamkeit oder prekären Lebenssituationen. Sie haben nicht gelernt, ihre Aggression und Sexualität zu integrieren und wollen diese mit Prostituierten ausleben.» Sie müssten jedoch lernen, Kopf und Unterleib zu verbinden.
In der Gesellschaft allgemein, besonders aber im religiösen Umfeld, habe man Mühe, eine Sprache für Sexualität zu finden, über Intimität ohne Entwertung zu sprechen und auf die Schattenseiten wie Missbrauch zu schauen. Das sei jedoch dringend nötig.
Karl Wolf versucht deshalb, diese Diskussion anzustossen und spricht mit jungen Männern auch im Priesterseminar darüber. Denn «wer seine eigene sexuelle Identität nicht kennt, kann auch im pastoralen Dienst nicht verantwortungsvoll mit anderen Menschen umgehen.» Das zeige sich eben auch bei den Freiern. «Was oberflächlich als Kick oder Belohnung gesehen wird, ist doch eigentlich immer die Suche nach Liebe.»
«Ich bin nicht dein Seitensprung, ich bin deine Weiterentwicklung»
Dass viele Menschen nicht gelernt haben, über Sexualität zu sprechen, sieht auch Domina Jay: an der Scham der Menschen, die zu ihr kommen. Dieses auch religiös bedingte Schamgefühl sei gepaart mit unechten Bildern aus der Pornografie, die den Männern suggerieren, sie könnten sich nehmen, was sie wollen.
Ein Flyer der Vereinigung Deutscher Sexworker fasse das schön zusammen. Darauf stehe: «Ich bin nicht dein Seitensprung, ich bin deine Weiterentwicklung.» Wenn jemand versuche, sich bei ihr etwas aus Mangel zu nehmen, gehe das nicht. «Dann sage ich nein», so Jay weiter. Viele Sexworker haben diese Wahl nicht.