«So habe ich das noch nie erlebt», sagt Christoph Knoch. Der reformierte Pfarrer ist seit 40 Jahren im interreligiösen Dialog aktiv und mit einer Jüdin verheiratet. Eine Situation wie jetzt, in der die Emotionen ein Gespräch verunmöglichen, sei neu. Und dies, obwohl der Nahostkonflikt schon früher hohe Wellen warf.
Doch der brutale Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel und der darauffolgende Krieg im Gazastreifen mit vielen zivilen Opfern lassen die Emotionen hochkochen – auf jüdischer und auf muslimischer Seite.
Zerreissprobe bei Iras Cotis
Wie der Konflikt polarisiert, zeigte sich Ende 2023 bei der interreligiösen Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz Iras Cotis, die die Woche der Religionen organisiert. Zwei jüdische Vorstandsmitglieder drohten mit dem Austritt, weil die muslimische Präsidentin Mitglied in einer pro-palästinensischen Organisation war. Ein Knall in einer Organisation, die den religiösen Frieden fördern will.
Für uns war bisher klar: Die Politik lassen wir draussen.
Wie konnte es so weit kommen? Hätte man den Knall nicht sehen kommen können? «Doch», gibt Christoph Knoch zu, Vizepräsident von Iras Cotis. «Aber für uns war bisher klar: Die Politik lassen wir draussen.»
Diese Haltung ist üblich im interreligiösen Dialog in der Schweiz. Man will sich den Dialog nicht durch Konflikte im Ausland verderben lassen.
Nur für gute Zeiten?
Ist der interreligiöse Dialog also eine Schönwetterveranstaltung? So weit würde Knoch nicht gehen. Aber: «Wir müssen aufhören, heikle Themen auszublenden und uns auch den schwierigen Fragen stellen.» Er ist überzeugt: Der interreligiöse Dialog hält das aus. «Wir haben bei Iras Cotis über 30 Jahre lang Vertrauen aufgebaut. Ohne dieses Vertrauen hätten wir den Knall wohl nicht überstanden.»
Ich wollte als Imam zeigen, dass wir da sind.
Vertrauen schaffen, andere Perspektiven kennenlernen: Das ist das Ziel von interreligiösen Arbeitsgruppen in der Schweiz. In den Vorständen sitzen Pfarrerinnen, Imame, Rabbiner, Hindu-Priester und Buddhistinnen. Sie organisieren gemeinsame Gebete, Diskussionen, ermöglichen Führungen in Tempeln, Moscheen und Synagogen.
Vertrauen schafft Solidarität
Imam Rehan Neziri von der albanischen Moschee in Kreuzlingen war kurz nach dem 7. Oktober an einer solchen Führung in einer Synagoge. «Ich wollte als Imam zeigen, dass wir da sind», erzählt er am Rande einer interreligiösen Veranstaltung in Weinfelden (TG). «Der Rabbi hat das sehr geschätzt und war überzeugt, dass wir es schaffen, unsere Beziehungen weiter zu pflegen.»
Das war ein grosser Moment.
Rabbi Schlomo Tikochinski von der jüdischen Gemeinde in St. Gallen erzählt von einer ähnlichen Begegnung, bei der er gemeinsam mit einer Muslimin die erste Sure des Korans gebetet hat. «Das war ein grosser Moment.»
Wenn aus dem Dialog Konkretes entsteht
Doch wie gross ist die Wirkung dieses interreligiösen Dialogs, gerade angesichts des zunehmenden Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus?
Der interreligiöse Dialog ist oft sehr vergeistigt.
«Der interreligiöse Dialog ist oft sehr vergeistigt, kopflastig», sagt Matthias Loretan, römisch-katholischer Theologe und Präsident des interreligiösen Arbeitskreises im Kanton Thurgau. «Man begegnet sich in Gesprächen, wohlwollend und kopfnickend, und dann passiert nichts.»
Helfen würden konkrete Projekte: Etwa der muslimische Religionsunterricht, der im Kanton Thurgau aus dem interreligiösen Dialog entstanden sei. Oder Dialogprojekte wie Likrat, bei dem jüdische Jugendliche Schulen besuchen und ihre Religion erklärten.
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