Wie kann die Gesellschaft den Nahostkonflikt konstruktiv diskutieren? SRF News hat mit zwei Expertinnen des Zürcher Instituts für interreligiösen Dialog darüber gesprochen.
SRF News: Wie nehmen Sie die aktuelle Diskussion wahr?
Hannan Salamat: Ich nehme wahr, dass es immer weniger Räume gibt, wo Grautöne erlaubt sind. Meine Beobachtung ist, dass Menschen denken, dass sie in einem Konflikt, der ja so viele Dimensionen und so viele Seiten hat, eine klare Seite beziehen müssen und eine Position haben müssen. Und was mich erschreckt, ist, dass immer weniger Platz da ist für Sowohl-als-auch, es wird ein Entweder-oder.
Meinungsvielfalt bedeutet Meinungsverschiedenheit, und eine wesentliche Rolle spielt der Dialog.
Die schrecklichen Ereignisse am 7. Oktober werden teilweise in ihrer Ursache komplett anders gedeutet. Wie beginnt man da eine Diskussion?
Dina Wyler: Mit Menschlichkeit. Man muss kein Nahostexperte sein. Das Verzwickte an der Sache ist, dass wir uns gegenseitig unsere Trauer absprechen wollen. Solange wir das tun, können wir gar nicht über den Konflikt sprechen. Wir müssen anerkennen, welch grosses Leid so viele Menschen aktuell erfahren. Und nur indem wir diese radikale Solidarität füreinander aufbringen, ist das Fundament für einen Dialog gelegt.
Hannan Salamat, sie machen Schulbesuche und beraten Lehrpersonen, wie man über den Nahostkonflikt sprechen kann. Es geht um Vermittlung, wie macht man das konkret?
Salamat: Konkret geht es um Streitkultur. In einer pluralen Gesellschaft herrscht keine Harmonie. Das heisst, wir haben verschiedene Meinungen, unsere Geschichten haben unterschiedliche Perspektiven. Meinungsvielfalt bedeutet Meinungsverschiedenheit, und eine wesentliche Rolle spielt der Dialog. Wie streiten wir auch als Gesellschaft konstruktiv miteinander? Wo wollen wir hin, wie wollen wir zusammenleben?
Wir denken, dass wir bei einer Diskussion die Argumentation gewinnen müssen.
Wyler: Und wenn ich da noch ergänzen kann, wir müssen lernen, Perspektiven zu wechseln, gerade in so einem unglaublich komplexen Konflikt wie demjenigen in Nahost. Und vor allem müssen wir auch anerkennen, dass mehrere Perspektiven ihre Berechtigung haben.
Wieso fällt es vielen Menschen so schwer, mit Nuancen zu diskutieren?
Wyler: Das ist die grosse Frage. Ich glaube, weil wir denken, dass wir eine Argumentation gewinnen müssen, weil es für viele Leute, gerade für die Betroffenen, um sehr viel geht. Wir hören einander nicht mehr zu, sondern sprechen in völligen Silos über zwei Narrative, die zum Teil vielleicht sogar beide wahr sein können. Wir müssen es schaffen, all diesen verschiedenen Stimmen Raum zu geben.
Man kann ketzerisch sagen, es ist doch gar nicht so wichtig, wie wir in der Schweiz über den Nahostkonflikt diskutieren. Was antworten Sie darauf?
Wyler: Diese vermeintlich ketzerische Frage ist, glaube ich, auch deshalb trügerisch, weil es sehr wohl auch etwas mit uns hier in der Schweiz, in Europa zu tun hat. Wir lesen über antisemitische Vorfälle, welche überall auf der Welt zunehmen. Der antimuslimische Rassismus nimmt zu. Wir sind Teil dieser Bevölkerung, wo diese Dinge geschehen. Hannan und ich sind keine Nahostexpertinnen. Aber wir sind Teil der Schweizer Gesellschaft und wir haben eine Vision, wie diese Gesellschaft aussehen soll und wie wir bestenfalls miteinander umgehen sollen und können. Und da ist jeder in der Verantwortung.
Das Gespräch führte Sandro Della Torre.