Das Thema Nahost spaltet die Gesellschaft auch in der Schweiz, wie ein Streit im nationalen Dachverband des interreligiösen Dialogs zeigt. Die Spannung schlägt sich auch zwischen arabischstämmigen Menschen und Juden nieder. SRF-Religionsredaktorin Judith Wipfler ordnet den Sachverhalt ein.
SRF News: Sehen Sie – zum Beispiel aufgrund dieses akuten Konflikts in der interreligiösen Arbeitsgruppe – den interreligiösen Frieden bei uns gefährdet?
Judith Wipfler: Dieser Konflikt ist ein Zeichen dafür, wie die Nerven blank liegen. Vor allem die jüdische Gemeinschaft ist aktuell extrem belastet. Es gab über 100 antisemitische Übergriffe seit dem Massaker in Israel vor einem Monat hier bei uns in der Schweiz.
Das macht Angst. Veranstaltungen in der «Woche der Religionen» mussten abgesagt werden, weil jüdische Referentinnen nicht kommen konnten oder wollten. Oder Veranstaltungen wurden wie in der liberalen jüdischen Gemeinde in Basel aus Sicherheitsbedenken abgesagt. Alle, die irgendwie mit Menschen in Israel verbunden sind, stehen unter Dauerstress.
Wäre es einfacher, wenn sich Rifat Lenzin geäussert und sich von der Hamas-Gewalt abgegrenzt hätte?
Lenzin hat Gewalt immer verurteilt. Sie hat sich bewusst nie politisch zu Nahost geäussert. Lenzin hat ja viele Jahre mit Juden und mit Christen zusammen im Zürcher Lehrhaus gearbeitet. Das Lehrhaus, heute Zürcher Institut für interreligiösen Dialog, klammerte das Thema Nahost immer ganz bewusst aus und hat gute Erfahrungen damit gemacht, im Sinne von: Wir können das Problem hier zwischen Israel und den Palästinensern nicht lösen. Ich fand das klug, denn das Thema Nahost polarisiert so stark, dass ein vernünftiger Dialog darüber fast unmöglich ist.
Andererseits scheint gewissermassen ein Generalverdacht über den muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz zu schweben, sie seien antisemitisch. Wie sehen Sie das?
Die muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz klagen zu Recht über die Islamophobie, die ihnen entgegenschlägt. Die Solidarität mit Israel hat in manchen Kreisen einen antiarabischen und antimuslimischen Reflex. Oft übersehen diese Menschen, dass die Mehrheit der Schweizer Musliminnen und Muslime in guter Nachbarschaft mit jüdischen Kollegen leben und ohnehin nicht extremistisch sind.
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In der interreligiösen Arbeitsgemeinschaft sind auch die grossen Kirchen vertreten. Wie stellen diese sich zu diesem konkreten Fall?
Auch in den Kirchen selbst herrscht Entzweiung über das Thema Nahost, konkret, mit wem man sich jetzt solidarisieren oder von wem man sich abgrenzen muss. Grundsätzlich tun die Kirchen sehr viel, um zu vermitteln und auch Räume für den Dialog zu schaffen. Beispielsweise gab es letzte Woche eine interreligiöse Klagefeier in der offenen Kirche Sankt Jakob in Zürich. Imam, Rabbiner und Pfarrerin standen nebeneinander und trauerten gemeinsam.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.