Fast jeder und jedem dürften sie schon begegnet sein: adrett gekleidete junge Männer und Frauen, die einen auf der Strasse ansprechen, meist mit amerikanischem Akzent. Es sind Angehörige der Kirche Christi der Heiligen der Letzten Tage, oder kurz: Mormonen.
«Wie geht es dir heute?» oder «Wofür bist du dankbar?» seien gute Fragen, um eine Konversation zu starten, erklärt Sister Matthews, die eigentlich Jacqueline heisst, aber für die Zeit der Mission ihren Vornamen mit «Sister» ersetzt. «Oder ich frage einfach, ob es ihnen gut geht, das geht auch.» Die Vermutung, dass praktisch niemand mit ihnen sprechen wolle, sei falsch.
Die allermeisten Menschen seien freundlich und anständig, und die Mehrheit sei durchaus zu einem Schwatz bereit.
Vom Sport zu Gott
«Das Ziel ist schon, dass Menschen in unsere Kirche kommen und ein Bündnis mit Gott schliessen», sagt ihre Kollegin Sister Brooks. Aber nicht alle wollten über Gott oder Jesus sprechen.
Würde ich einen Businesspartner suchen, dann käme ein Mitglied der Kirche Jesu Christi in die engere Wahl. Sie sind zuverlässig und tüchtig.
Das sei okay, sagt Elder Calabrese aus Litauen. Männliche Vollzeitmissionare heissen «Elder», weibliche «Sister». Dann sprächen sie halt über Sport, das könne er gut, denn er habe früher Wasserball gespielt. Es gehe darum, mit verschiedenen Leuten ins Gespräch zu kommen und ihnen so zu helfen. Praktizierte Nächstenliebe, das sei ihr Auftrag.
«Würde ich einen Businesspartner suchen, dann käme ein Mitglied der Kirche Jesu Christi in die engere Wahl», sagt Marie-Therese Mäder, Religionswissenschaftlerin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Mormonen seien zuverlässig und tüchtig und würden einen nicht übers Ohr hauen. So wurde beispielsweise die US-Hotelkette Marriott von einem Mormonen gegründet, was man unter anderem daran erkennen kann, dass bis heute in jedem Hotelzimmer ein Buch Mormon aufliege.
Nach der Mission steht die Heirat an
Marie-Therese Mäder hat sich immer wieder eingehend mit der Kirche Christi befasst. So war die Religionswissenschaftlerin unter anderem eine Woche lang im Hauptquartier in Salt Lake City zu Gast, wo sie in das Universum der Neu-Christen eintauchen konnte. Pausenlos begleitet von einer Assistentin, die sehr besorgt war, weil sie mit 28 Jahren noch nicht verheiratet war.
Denn kehren die Sisters und Elders nach der Mission nach Hause zurück, ist die «Siegelung», also die Heirat, der nächste Programmpunkt. Mit einer Person des anderen Geschlechts wohlverstanden: «Es gibt einen Lebensweg, der beginnt mit drei Jahren, mit acht Jahren folgt die Taufe, dann Mission, Heirat, möglichst viele Kinder, dann geht es immer so weiter, bis über den Tod hinaus.» Zum Lebensweg gehörten auch Abende für Paarungswillige, mit Aufpasser, so Mäder weiter.
Ungewöhnlich starker Lebensstil
Denn Alkohol, Kaffee, Schwarz- und Grüntee, Rauchen sowie Sex vor der Ehe sind verboten. Klingt wenig attraktiv für Jugendliche, die die Welt und sich selbst entdecken und spüren wollen, denke ich. Doch ich werde eines Besseren belehrt: «Es gibt viele, die unseren Lebensstil nicht leben wollen oder können. Aber gerade gestern sagte mir jemand: ‹Wow. Das ist stark. Ich weiss nicht, ob ich es kann, aber ich möchte mich taufen lassen›», erzählt Sister Matthews.
Historischer Kontext
«Sie empfinden das nicht als Verzicht, sondern als Stärkung der Persönlichkeit in dem Sinne, dass sie diese Dinge nicht brauchen», sagt Marie-Therese Mäder. Zudem müsse man die Kirche Jesus Christi historisch kontextualisieren.
Als Frau mit einem redlichen Mann verheiratet zu sein, bedeutete Sicherheit.
Als der selbst ernannte Prophet Joseph Smith Zeugnis ablegte und 1830 das Buch Mormon erschien, waren Alkohol und Glücksspiele ein riesiges Problem. «Als Frau mit einem redlichen Mann verheiratet zu sein, der am Ende des Monats nicht den halben Verdienst versoff und die andere Hälfte verzockte, bedeutete Sicherheit», so Mäder.
Immer mit dabei: das Buch Mormon
Gegründet wurde die Kirche vom Händler, Bauern und gelegentlichen Schatzsucher Joseph Smith im US-Bundesstaat New York. Laut eigener Aussage übersetzte Smith das «immerwährende Evangelium», das er auf goldenen Tafeln in einer Höhle gefunden hatte, aus dem «reformierten Ägyptisch» ins Englische. So entstand das Buch Mormon, ein zusätzliches Testament, das von allen anderen christlichen Kirchen nicht anerkannt wird.
Die jungen Missionare haben es stets dabei. «Ich überlege mir immer, welche Sprachfassungen ich morgens in meinen Rucksack packe. Oft passt es. Wenn ich eine tschechische Bibel dabeihabe, treffe ich später einen Tschechen, und der freut sich, dass er die Bibel in seiner Muttersprache lesen kann», erzählt Sister Brooks.
Aus christlicher Sicht gibt es das Alte und das Neue Testament – fertig. Wenn eine Gemeinschaft kommt und sagt, sie hätten da noch ein drittes Buch, ist das für angestammte Christen ein No-Go.
Das Buch Mormon verhindert, dass die Kirche Christi Teil der weltweiten christlichen Ökumene ist, der immerhin über 300 Kirchen angehören. Auch dem Dachverband Freikirchen und christliche Gemeinschaften gehört sie nicht an.
«Aus christlicher Sicht gibt es das Alte und das Neue Testament – fertig», so Marie-Therese Mäder. «Und wenn eine Gemeinschaft kommt und sagt, sie hätten da noch ein drittes Buch, das im 19. Jahrhundert entstand, dann ist das für angestammte Christen eben ein No-Go.»
9000 Gläubige in der Schweiz
17 Millionen Gläubige zählt die Kirche Christi laut eigenen Angaben, über die Hälfte lebt inzwischen ausserhalb der USA. In der Schweiz seien es rund 9000, sagt Oliver M. Bassler, Medienbeauftragter der Kirche Christi: «Dieses Jahr hatten wir schon 50 Taufen, die Gemeinschaft wächst moderat.» Marie-Therese Mäder sagt, es komme darauf an, wie man zähle: «Sie zählen die neu Getauften, doch viele sind – ähnlich wie man das von den Landeskirchen kennt – nicht sehr aktiv.»
Oliver M. Bassler lässt das nicht gelten, er empfinde seine Gemeinschaft als lebendig, das sehe man in den Gottesdiensten, wo gut und gerne an die 200 Leute zugegen seien. Bassler ist reformiert aufgewachsen. An der Konfirmation habe er nichts gespürt, doch dann nahmen ihn Freunde mit in eine andere Kirche, zu den Mormonen. «Das war nicht intellektuell, und ich habe etwas gespürt. Das hat mir gefallen. Hier sprichst du direkt mit Jesus, du gehst Bündnisse ein mit Gott.»
Bündnisse mit Gott – also Taufe, Konfirmation, Heirat und für Männer zusätzlich das Priestertum – der direkte Draht zu Jesus, das ist auch für die jungen Männer und Frauen auf Mission ungeheuer wichtig. Immer wieder betonen sie, wie sehr sie sich wünschen, dass andere Menschen sich ihrer Kirche anschliessen und sich taufen lassen würden. So wären sie alle Teil derselben Familie. Denn die Familie überdauere alles, auch den Tod.
Darf man bei euch auch mitmachen, wenn man schwul ist, frage ich die jungen Menschen zuletzt. Er meint homosexuell, übersetzt Bassler und beantwortet die Frage gleich selbst: Ja, das geht. Sie hätten mehrere homosexuelle Mitglieder in der Ostschweiz, zu der auch Zürich organisatorisch gehört. Aber heiraten darf man nicht? «Genau», so Bassler, der versteht, worauf ich hinauswill, «die leben dann keusch».