«Wenn in Jerusalem Frieden herrscht, dann gibt es auch Frieden auf der ganzen Welt», sagt die palästinensische Ökonomin Hind Khoury im Film «Der Kampf um Jerusalem». Von Frieden in Jerusalem kann aber keine Rede sein.
Jerusalem ist die einzige Stadt, die drei Weltreligionen als heilig gilt. Wer hier wo wohnen und wohin gehen darf, ist genauso umstritten wie die religiöse oder politische Bedeutung, die man Jerusalem beimisst.
Mikrokosmos der Weltreligionen
Musliminnen und Muslime beten auf dem Tempelberg, den sie «das edle Heiligtum» nennen. An der Westmauer, die den Berg stützt, versammeln sich Jüdinnen und Juden zum Gebet. Keine 300 Meter entfernt steht die Grabeskirche, unter deren Kuppel sich insgesamt sechs christliche Konfessionen mehr oder weniger friedlich um das vermutete Grab Jesu scharen. Alle diese Stätten befinden sich in der Altstadt, deren dicke Mauern Süleyman der Prächtige im 16. Jahrhundert errichten liess.
«Es ist, als schlage hier ein Herz, von dem sich alles ausbreitet», sagt die israelische Geschichtslehrerin Talia Cohen. Jerusalem sei ein Mikrokosmos, und ob religiös oder nicht, dieser Mikrokosmos der drei Weltreligionen sei die Wiege von rund 60 Prozent der Menschheit, fügt der französische Historiker Vincent Lemire hinzu. Die Bedeutung Jerusalems für die Welt sei also fast nicht zu überschätzen.
Zuständig für die heiligen muslimischen Stätten sind weder Israeli noch Palästinenser, sondern die Waqf-Behörde Jerusalem, eine islamische Stiftung, der ausschliesslich Jordanier angehören.
Doch «on the ground» ist Israel zuständig. Es kontrolliert den Zugang zur Altstadt und zum Tempelberg. Wenn es unruhig wird, werden die Checkpoints aus Sicherheitsgründen geschlossen. Muslime dürfen nicht mehr auf den Tempelberg beten gehen. Das führt meist zu weiteren Unruhen.
Stadt unter internationaler Aufsicht
Jerusalem war schon immer umstritten. Deshalb wäre die Idee, die Stadt unter die Aufsicht der UNO zu stellen, vielleicht keine schlechte Lösung gewesen. Als diese Möglichkeit 1947 diskutiert wurde, gab es mehrere Präzedenzfälle: die Internationale Zone von Tanger, die Freie Stadt Danzig, das eben erst aus der Taufe gehobene Freie Territorium Triest. Dies waren alles Städte, die nach Kriegen für einige Jahre oder Jahrzehnte unter internationale Aufsicht gestellt wurden.
Dies hätte laut dem UN-Teilungsplan für das ehemalige britische Mandatsgebiet Palästina auch für Jerusalem und Bethlehem gelten können, die von der beabsichtigen Teilung in einen jüdischen und einen arabischen Teil ausgenommen waren. Eine Mehrheit der damals noch viel kleineren UNO nahm die berühmte Resolution 181 im November 1947 zwar an, doch die Ereignisse überschlugen sich.
Die arabischen Staaten lehnten nicht nur den Teilungsplan ab, sie wollten auch keinen aus ihrer Sicht kolonialen zionistischen Staat in ihrer Nachbarschaft. Als ihn David Ben-Gurion im Mai 1948 trotzdem ausrief, überfielen die Armeen Transjordaniens, Ägyptens, Syriens, von Irak und dem Libanon das einen Tag zuvor gegründete Israel.
Das neu gegründete Land behauptete im Krieg seine Unabhängigkeit, unter anderem auf Kosten der Palästinenserinnen und Palästinenser, die zu Hunderttausenden aus ihren Dörfern und Städten flohen oder vertrieben wurden und bis heute auf ihre Rückkehr warten.
Die Teilung
Danach war Jerusalem 20 Jahre lang geteilt. Der Osten inklusive der Altstadt gehörte zusammen mit dem Westjordanland zu Jordanien, der Westen zu Israel. Die Grenze verlief ziemlich genau entlang der heutigen Tramlinie.
Jordanien habe sich kaum um den eroberten Stadtteil gekümmert und seine Universitäten und Ministerien stattdessen in Amman gebaut, erzählt der Historiker Vincent Lemire. «Israel hingegen investierte viel Geld in die Stadt, verlegte den Sitz des Premierministers, das Parlament und die meisten Ministerien nach West-Jerusalem.»
Im Sechstagekrieg 1967 eroberte Israel schliesslich den Ostteil der Stadt, annektierte ihn später und bezeichnet ganz Jerusalem seit 1980 als Hauptstadt, währenddessen die Palästinenser den Ostteil der Stadt als Hauptstadt eines zukünftigen palästinensischen Staats ansehen. Letztere Sichtweise wird von einer grossen Mehrheit der Staatengemeinschaft geteilt.
Sie betrachten Ostjerusalem als besetztes Gebiet und Tel Aviv als Hauptstadt Israels. Um dies zu unterstreichen, stehen die meisten Botschaften – mit der Ausnahme jener der USA, von Guatemala, Honduras, Papua-Neuguinea und Kosovo – weiterhin in Tel Aviv und die Verbindungsbüros mit der palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah.
Verhandlungen verlaufen im Sand
Der Standort Ramallah ist eine Übergangslösung, solange das eigentliche Ziel, die palästinensische Hauptstadt in Ostjerusalem zu errichten, nicht erreichbar ist. Dieses Ziel scheint jeden Tag weiter wegzurücken. Verhandlungen darüber gab es, sogar sehr komplizierte, in denen unter anderem über den unter- und oberirdischen Zugang zu den heiligen Stätten gestritten wurde, jedoch führten sie nie zu einem Ergebnis, das beide Seiten akzeptiert hätten.
Wie im Juni 2023 bekannt wurde, hätte die israelische Regierung unter Ehud Barak 2000 einer Teilung Jerusalems zugestimmt: «US-Präsident Clinton war dafür», sagt der israelische Historiker Benny Morris. «Er schlug vor, dass Israel den grössten Teil Ostjerusalems sowie die Hälfte der Altstadt abtritt. Doch weil man sich über den Tempelberg nicht einigen konnte, haben die Palästinenser abgelehnt.»
«Ehud Barak wollte die heilige Al-Aqsa-Moschee aufteilen, da sagte Jassir Arafat: Für diesen Kompromiss brauche ich die Zustimmung von einer Milliarde Muslime weltweit, und hat abgelehnt», erinnert sich Saleh Lutfi, Mitglied der islamischen Bewegung Israels. Zwei Monate später besuchte der damalige Oppositionsführer Ariel Scharon unter starkem Polizeischutz den Tempelberg. Daraufhin brach ein blutiger Aufstand, die sogenannte zweite Intifada, aus.
Um sich vor Anschlägen zu schützen, begann Israel danach mit der Errichtung einer Sperrmauer. Diese führt um Jerusalem herum und trennt die Palästinenser, die in Ostjerusalem leben, von jenen im Westjordanland ab. Und in Ostjerusalem entstehen immer mehr jüdische Siedlungen in palästinensisch geprägten Vierteln, was nach internationalem Recht illegal ist und von Kritikern als Kolonialismus bezeichnet wird.
Das lässt Geschichtslehrerin Thalia Cohen nicht gelten: «Kolonialismus durch wen und von was? Ein Kolonialist ist jemand, der aus einem anderen Land kommt und ein Land erobert, das ihm nicht gehört.» Doch sie als Jüdinnen und Juden würden lediglich wiederkehren in ein Land, das ihnen schon immer gehörte: «Wenn es einen Ort auf der Welt gibt, an dem wir leben sollten, dann hier. Das ist unsere Heimat.»
Sichtweisen auf eine Stadt
«Jerusalem und wir gehören zusammen», entgegnet Religionswissenschaftler Mustafa Abu Sway stoisch, aber mit Nachdruck: «Nach Jerusalem führte die Nachtreise des Propheten, Friede sei mit ihm, der aus Mekka nach Jerusalem gebracht wurde – aus dem Heiligtum der Al-Haram-Moschee ins Heiligtum der Al-Aqsa-Moschee. Jerusalem ist ein integraler Bestandteil der islamischen Zivilisation.»
Vermutlich sind beide Sichtweisen auf die Stadt des einen Gottes legitim und richtig. Doch nach Versöhnung und Kompromissbereitschaft klingen sie nicht. Und so müssen Jerusalem und die ganze Welt weiterhin auf den langersehnten Frieden warten.