Unsere Eltern haben sich vielleicht für uns aufgeopfert. Aber müssen wir das deshalb auch für sie tun? Und um welchen Preis?
Annette F. (59) fragt sich: «Muss ich meinen Vater bis zu seinem Tod betreuen? Und das, obwohl es mich bei der Mutter in die Erschöpfung getrieben hat?»
Anouc D. (23) würde gerne nach Norwegen auswandern, will aber ihre Eltern nicht im Stich lassen. Beide Überlegungen führen auf die moralische Frage zurück, ob wir unseren Eltern etwas schulden.
Spoiler: Die Philosophin Barbara Bleisch sagt: «Nein, wir schulden unseren Eltern nichts.» Die Geschichten von Annette F. und Anouc D. zeigen aber, dass die Antwort im Alltag nicht ganz so einfach ist.
Pflegen bis zum Burnout
Annette F. sagt: «Für uns Kinder war schon früh klar, dass wir zu Hause mit anpacken müssen.» Sie wuchs als viertes Kind einer Familie auf, die eine Gärtnerei und ein Blumengeschäft betrieb. Ihre Mutter sei mit den vier Kindern oft «sehr gefordert bis überfordert» gewesen. «Das hat mich geprägt.»
Ich fühlte mich verpflichtet, habe es aber auch gerne getan.
Vor zweieinhalb Jahren erhielt ihre Mutter die Diagnose «unheilbarer Unterleibskrebs». «Ich fühlte mich sofort verantwortlich», sagt Annette F.. Sie ist zwar kein Einzelkind, aber im Gegensatz zu ihr haben die anderen Geschwister keinen engen Kontakt mehr zu den Eltern.
Die Mutter hatte den Wunsch, zu Hause zu sterben. Für Annette F. war klar, dass sie ihr diesen Wunsch erfüllen und sie zu Hause pflegen will: «Ich fühlte mich verpflichtet, habe es aber auch gerne getan.»
Annette F. koordinierte die Einsätze der Spitex und einer Palliative Care-Organisation und verbrachte viel Zeit bei ihrer Mutter. Doch dann wurde alles zu viel – Annette F. erlitt ein Burnout. Zur todkranken Mutter kam eine belastende Situation auf der Arbeit. «Ich brach zusammen und merkte, dass gar nichts mehr geht.»
Sie begleitete ihre Mutter trotzdem bis zum letzten Atemzug. Am Tag, als der Körper ihrer Mutter aus der Wohnung abtransportiert wurde, stand Annette F. mit ihrem Vater im Zimmer, in dem die Mutter gestorben ist. Sie erinnert sich genau an das Gespräch, das sie mit ihrem Vater führte.
Wie für die Mutter, so für den Vater?
Ihr Vater sagte: «Die Sonne scheint wieder so schön ins Zimmer. Wenn es dann mir einmal nicht mehr gut geht, stelle ich mein Bett auch hier rein.» Annette F. entgegnete: «Ach ja, und wer pflegt dich denn?» Der Vater schaute seine Tochter erstaunt an und sagte mit fragendem Blick: «Du?»
Sie realisierte in diesem Moment, dass ihr Vater von ihr erwartete, dass sie das, was sie für ihre Mutter getan hatte, auch für ihn tut. Aber für Annette F. war schnell klar: «Nach dem, was es bei der Mutter mit mir gemacht hat, kann und will ich das nicht.»
Annette F. offenbarte ihrem Vater noch in diesem Gespräch, dass sie ihn nicht pflegen werde. Er sei erstaunt gewesen, erzählt sie. Nach einer langen Pause habe er gesagt: «Ja, dann ist es halt so.»
Der Vater wird noch in diesem Jahr 90 Jahre alt und zeige erste Anzeichen von Demenz. Drei Monate nach dem Tod seiner Frau ist er in ein Altersheim gezogen.
Wir schulden unseren Eltern nichts.
Sie begleite ihren Vater weiterhin auf seinem Weg, sagt Annette F.: «Ich hätte es nicht ein zweites Mal geschafft, mich aufzuopfern, nur damit er in dieser Wohnung bleiben kann.» Es stimme nun für beide. Für Annette F. ist klar: «Wir schulden unseren Eltern nichts, nur weil sie uns das Leben geschenkt haben.»
Sind Traum und Realität vereinbar?
Auch Anouc D. hat sich schon viele Gedanken zur Betreuung ihrer Eltern gemacht. Die 23-Jährige wohnt in Basel, ihr Traum ist es aber schon länger, in den Norden auszuwandern. Schön und gut – wäre da nicht das Pflichtbewusstsein ihren Eltern gegenüber.
Ich liebe meine Eltern und will nicht egoistisch sein.
Ihre Mutter ist 62, ihr Vater 73. «Mein Vater ist 50 Jahre älter als ich». Die Frage nach der Betreuung der Eltern werde bei ihr langsam aktuell. «Ich will sicher da sein für meine Eltern.» Das steht im Konflikt mit dem Traum, auszuwandern.
Anouc D. fühlt sich hin- und hergerissen: «Einerseits weiss ich, dass ich meine Träume verwirklichen will. Gleichzeitig liebe ich meine Eltern und will nicht egoistisch sein.» Sie hat sich deshalb sogar schon überlegt, gemeinsam mit ihren Eltern nach Norwegen auszuwandern.
Ihre Eltern waren überrascht, dass sich ihre Tochter schon jetzt viele Gedanken über ihre mögliche Betreuung macht. «Sie macht sich mehr Gedanken als ich», sagt die Mutter mit einem Lachen. Beim Vater, der elf Jahre älter ist als seine Frau, klingt es anders: «Ich überlege mir schon, wie es weitergehen kann», sagt er.
Anouc D.s Vater hat zwar keine Erwartungen, sagt aber auch: «Ich bin mir bewusst, dass es gut ist, wenn man im Alter eingebettet und gut vernetzt ist.» Diese Vernetzung müsse nicht unbedingt der enge Kontakt mit der Tochter sein. «Aber es wäre natürlich schön, wenn das der Fall wäre», so Gerold.
Auswandern mit den Eltern
Als der Vater das erste Mal von der Idee hörte, mit der Tochter auszuwandern, habe er spontan gesagt: «Ich komme sofort mit. Ich spreche Norwegisch, daher ist das für mich eine schöne Vorstellung.»
Auch die Mutter wäre nicht abgeneigt: «Ich sagte immer, dass ich im Alter vielleicht die Hitze nicht mehr ertrage. Daher würde der Norden gut passen.»
Eltern und Tochter sind also offen für unkonventionelle Lösungen. Die Mutter kommt nochmal auf die Schuldfrage zu sprechen und sagt zu ihrer Tochter: «Du schuldest uns nichts. Und ich erwarte von dir nur etwas: Lebe dein Leben.» Der Vater fügt an: «Ja, gehe deinen Weg. Ich möchte nicht, dass wir als Eltern plötzlich eine Bremse für dich sind.»
Darum schulden wir unseren Eltern nichts
Nüchtern betrachtet schulden wir unseren Eltern tatsächlich nichts. Zu diesem Schluss kommt die Philosophin und SRF-Moderatorin Barbara Bleisch in ihrem Buch «Warum wir unseren Eltern nichts schulden».
Bei klassischen Schulden gebe es jeweils zwei Vertragsparteien, argumentiert Bleisch. Person X leiht Person Y Geld und diese verpflichtet sich, das Geld in einem bestimmten Zeitraum zurückzuzahlen. Beide entscheiden sich für diesen Deal.
Kinder würden sich aber nicht aktiv entscheiden, zur Welt zu kommen. Daher sei die Haltung, dass Kinder ihren Eltern etwas schulden, nicht zulässig.
Bleisch argumentiert weiter, dass klassische Schulden irgendwann abbezahlt seien. Auch das funktioniere in einer Eltern-Kind-Beziehung nicht. «Eltern werden ihren Kindern ja nicht vorrechnen, dass sie sie noch dreimal besuchen müssen oder ihnen noch ein Jahresabonnement für den öffentlichen Verkehr bezahlen sollten, weil erst dann die Schuld abgetragen sei, die sich das Kind früher einmal eingehandelt habe», schreibt sie.
Wer erwartet was?
Anouc D. hört ihren Eltern zu und sagt: «Ja, vielleicht erwarten sie nicht von mir, dass ich mich um sie kümmern werde. Aber wahrscheinlich erwarte ich es von mir.» Ihre Eltern hätten ihr so viel gegeben, da sei es für sie klar, dass sie etwas zurückgeben will.
Woher kommt diese Erwartungshaltung sich selbst gegenüber? Möglicherweise weniger von innen als von aussen: «Würde ich ohne meine Eltern auswandern, würde es bestimmt Sprüche geben», ist Anouc D. überzeugt. Sprüche wie: «Warum lässt du deine Eltern im Stich?»
Auch Annette F. zweifelte zeitweise aufgrund ähnlicher Bemerkungen an ihrer Entscheidung, den Vater nicht zu pflegen. Dazu gesellten sich bei ihr Fragen zur Beziehung zu ihrem 31-jährigen Sohn: «Ich frage mich, wie das wird, wenn meine Kräfte nachlassen, wenn ich Betreuung brauche. Fühlt er sich dann verantwortlich, als mein einziges Kind?»
Und was erwartet sie als Mutter von ihrem Sohn? «Ich erwarte nichts», sagt Annette F. Sie wünsche sich einfach, dass ihr Sohn sie wahrnehme. Aber sie erwarte nicht, dass er sie dann wöchentlich besuchen komme. «Das wäre natürlich schön, aber es bleibt ein Wunsch.»
Rational betrachtet scheint die Sache klar: Wir schulden unseren Eltern nichts. Die eigenen Gefühle, Erwartungen oder das schlechte Gewissen widersprechen jedoch manchmal – wie bei Annette F. und Anouc D. – dieser Erkenntnis.