Kürzlich war ich im Fitnessstudio. Mir gegenüber strampelte sich ein Typ schweissüberströmt und mit schmerzverzerrtem Gesicht die Beine ab. Auf den zweiten Blick erkannte ich in ihm meinen Philosophieprofessor aus dem Bachelorstudium. Vage erinnerte ich mich an die damalige Vorlesung, irgendwas zu Nietzsche war’s.
Der Leib als «grosse Vernunft»
Ich fragte mich, was der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche wohl davon halten würde, dass Menschen über ihn dozieren, die sich nach dem Unterrichten im Fitnesscenter so richtig auskotzen, ihren Körper stählen und an Maschinen züchtigen. Immerhin war Nietzsche ja der Denker, der den Leib stark gemacht, ihn sogar die «grosse Vernunft» genannt hat.
Sind wir in Zeiten des Schrittzählers am Armgelenk und der transparent gemachten Jogging-Erfolge auf Social-Media näher an der «Vernunft des Leibes»? Baut man im Fitnessraum und durch strikte Diäten an derselben?
Nietzsche zumindest kann man sich nur schwer im Kraftraum vorstellen. Der Philosoph war über Jahrzehnte hinweg kränklich und starb nach 10-jähriger geistiger Umnachtung mit 54 Jahren.
Ertüchtigt hat er sich primär in der Natur, dort aber umso leidenschaftlicher. Die besten Gedanken mache er sich im Gehen, so Nietzsche sinngemäss. Etwa in der Bergwelt des Oberengadins, wo auch eines seiner berühmtesten Werke, «Also sprach Zarathustra», entstand.
Nietzsche und der Sport
Auch wenn Nietzsche nicht konkret über Sport schreibt, so dreht sich in seiner Philosophie doch einiges um sportverwandte Themen wie Spiel, Wettkampf, den Körper, Askese und die Ernährung. Es ist in seinem «Zarathustra», wo er vom Leib als «die grosse Vernunft» schreibt: «Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe als in deiner besten Weisheit», liest man dort.
Manch einer mag da zustimmend nicken, kennt doch jeder das Bauchgefühl oder die Floskel, man solle «auf das eigene Herz hören». Aber wie steht es um die Arbeit am Selbst im Kraftraum? Was würde der Leib-Philosoph über die Fitnesskultur und den Körperkult unserer Zeit sagen?
Der Instinkt beeinflusst das Denken
Nietzsche entwickelt in seinem «Zarathustra» keine Theorie des Körpers. Aber er polemisiert gegen die Vormachtstellung des Rationalismus in der abendländischen Philosophie und wie darin der Leib als Erkenntnisquelle missachtet wurde. Ihm geht es also um das alte Verhältnis von Körper und Geist.
Gemäss Nietzsche kann Denken nie isoliert von Instinkten und den Vorgängen des Körpers wie etwa Lust und Schmerz betrachtet werden. Dieser Aspekt wurde gemäss Nietzsche in der Philosophie zuvor verdrängt und er möchte ihn hervorheben.
Sein Anliegen war es deshalb, den Körper in das Denken zu holen, das Verborgene ins Bewusstsein zu rücken. Nietzsche wollte aufzeigen, wie sehr angeblich objektives, nüchternes Denken von inneren Trieben durchzogen und deshalb subjektiv geprägt ist.
Die «Vernunft des Leibes» meint auch den Zugang zum eigenen leiblichen Sein zu entdecken. Ein Individuum zu sein ist dann nicht etwas vorwiegend Geistiges. Der Geist ist bei Nietzsche vielmehr ein Werkzeug des Leibes.
Den Leib erfährt man nicht mit dem Fitness-Tracker
Und was hat das jetzt alles mit sportlicher Ertüchtigung zu tun? Vermutlich nicht allzu viel. Die Optimierung des Körpers hin zu einer Verzweckung ist wohl nicht das, was Nietzsche im Blick hatte.
Das leibliche Sein lässt sich nicht lediglich dadurch erfahren, dass man einen Fitness-Tracker mit sich führt und Statistiken über die eigene Performance sammelt. Das spiegelt nur die objektivierte Form dieses Körpers wider.
Die «Vernunft des Leibes» ist schliesslich so etwas wie die kondensierte Formel der irdischen Lebensbejahung und so ein Zugeständnis an die Immanenz. Die sinnstiftende Kraft liegt damit im Körper selbst und nicht irgendwo ausserhalb.
Was heisst es, Leib zu sein? Das ist die Frage, die uns Nietzsche an die Hand gibt, und die in unserer Zeit neues Gewicht bekommt.